Mnemosina e.V. - Verein für europäische Erinnerungskultur

Tschernobyl-Erinnerungsarbeit

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Lebe wohl, Pripjat!

Es ging auf die Maifeiertage zu und bei uns gingen die Kartoffeln zur Neige. In aller Frühe am Samstag­morgen fuhren mein Mann Valerij und ich also zu einem Wochenmarkt an die Stadtgrenze. Erstaun­licherweise fanden wir nur einen einzigen Kartoffelverkäufer. Und natürlich hatte sich vor ihm eine lange Schlange gebildet. Ich stellte mich an und Valerij machte sich zu einem Rundgang auf. Er kam aber ziem­lich schnell zurück, nahm mich zur Seite und erzählte, während er nervös eine Zigarette anzündete, dass es angeblich heute Nacht im Atomkraftwerk einen großen Unfall gegeben hatte, weswegen keine Autos mit Gütern aus Gomel hierher kommen dürften. Man spreche im Flüsterton, um keine Panik auszulösen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass wir die Kartoffeln, die wir nach Hause trugen, nicht mehr brauchen würden. Wir verstanden aber, warum man die Strassen mit soviel Reinigungsmittel besprühte, und an jeder Kreuzung ein Polizist stand.

Vielleicht haben wir Glück gehabt, dass wir sofort nach unserer Rückkehr nach Hause ein heißes Bad genommen haben – es war doch frisch draußen und uns war es kalt. (Mit heißem Leitungswasser hatten wir nie Probleme gehabt, kaltes war oft nicht da, warmes aber, manchmal unerträglich heißes, gab es immer genügend – aus dem Atomkraftwerk.) So haben wir wohl einen Teil der Verstrahlung abgewaschen, noch besser wäre eine Dusche gewesen, wie wir später einsahen.

Die Sonne ging auf, die Stadt, die noch nichts wusste, erwachte langsam. Im Radio wurde über den Vorfall geschwiegen, das Leben ging ganz normal weiter: Die Kinder gingen zur Schule (damals war ein Samstag noch ein Schultag), junge Mütter schoben ihren Kinderwagen durch den Park und endlich einmal drehte sich dort das Riesenrad. Die Gefahr konnte man nicht sehen oder hören, sie hatte keinen Geschmack und keinen Geruch. Mein Mann und ich sind auch nach draußen gegangen, zum Fluss - er hat geangelt und ich saß auf einem kleinem Badetuch in der Sonne und strickte… Wir gaben wahrscheinlich ein idyl­lisches Bild ab – vor dem Hintergrund des unweit rauchenden Reaktors.

Trotzdem hatten wir ein unruhiges Gefühl und sind bald nach Hause gegangen. Dort wartete schon eine Nachricht auf uns. Mein Mann, der als Ambulanzwagenfahrer arbei­tete, musste schnell zum Einsatz. Nach ein paar Stunden, als er wieder nachhause kam, war er betrunken. Das war merkwürdig: Er trank sehr selten und nie am Steuer und dann noch an einem solchen Tag… „Dort“ trinken alle, weihte er mich ein, "Die Strahlung hat Angst vor Alkohol und große Gefäße mit Wodka stehen einfach so herum – jeder trinkt soviel, wie er kann; so muss es sein." Er hat etwas gegessen und ist weiter gefahren und ich machte mir Sorgen, dass er betrunken am Steuer sitzt. Später erzählte er selbst, daß in diesen Tagen viele Menschen wegen Autounfällen mit betrunkenen Fahrern ums Leben gekommen sind.

Valerij ist noch mal nach Hause gekommen, früh morgens am nächsten Tag. Er sagte, man wird wahr­scheinlich alle Bewohner Pripjats wegen erhöhter Strahlenwerte evakuieren, ich solle mich zur Evakuierung vorbereiten, er aber müsse mit einigen hundert Einsatzkräften in der Stadt bleiben.

Am Sonntagmittag wurde endlich über das Radio verkündet, dass die Einwohner von Pripjat wegen „ungünstiger Strahlen-Bedingungen“ für drei Tage evakuiert würden. Die Bürger sollten sich gegen 14 Uhr mit ihren Ausweispapieren vor den Hauseingängen versammeln. Dort würden sie von Bussen abgeholt. Bis 16 Uhr standen wir vor den Häusern in der Sonnenhitze, ohne jegliche Schutzmaßnahmen, die Kinder begannen zu quengeln und wollten mal trinken, mal etwas zu Essen haben. Die Polizei mit Einwohnermeldelisten wachte jedoch streng darüber, daß niemand mehr in die Häuser zurückging.

Als endlich die Busse kamen, ging alles ohne Panik, Schreie und Unruhe vor sich – die Bürger folgten den Anweisungen und zeigten sich sowjetisch-diszipliniert. Die Busse bildeten eine kilometerlange Kette und keiner wusste, wohin wir gebracht und wie lange wir dort bleiben würden. Jedoch konnte sich damals keiner vorstellen, dass wir nie wiederkehren würden in diese junge, wunderbare, aufstrebende Stadt. Pripjat wurde 1970 im Zusammenhang mit dem Bau den Atomkraftwerks "Lenin" bei Tschernobyl gegründet, die Infotafel am Stadteingang gab das Durchschnittsalter der Bevölkerung mit 26 Jahren an, also die Hälfte der Einwohner waren Kinder...

Wir wurden in die Sandminen am Rande von Pripjat gefahren, wo wir Spaten aus­gehändigt bekamen und den Sand in Papiersäcke schaufeln mussten. Erst am Abend wurden wir in ein Dorf gebracht – wo uns eine freudige Nachricht erreichte: „In Pripjat werden die Strassen mit speziellen Mitteln gereinigt, also können wir bald zurück!“ Am nächsten Tag fuhren wir wieder mit den Bussen, noch weiter weg. Diesmal ging es an einigen sogenannten „Kontrollstellen“ vorbei, wo wir sahen, wie Winterkleidung und Teppiche verbrannt wurden. Den Menschen, die heimlich nach Pripjat zurückgekehrt waren, um wenigstens die Wertsachen zu retten, wurden ihre Hab­seligkeiten abgenommen und ein Teil davon sofort verbrannt – der andere Teil wurde zur Seite gelegt, was daraus wurde, weiß ich nicht.

Am Abend kamen wir wieder in das Dorf Puchowo zurück. Mir wurde gesagt, dass mein Mann mich suchte. Am nächsten Tag wurde ich krank: Fieber, Kopfschmerzen, metallischer Beigeschmack im Mund und entzündeter Kiefer und Rachen. Der Krankenwagen brachte mich in irgendein Zelt am Rande des Dorfes, wo Militärärzte mich untersuchten und mich in ein Krankenhaus schicken wollten. Ich lehnte aber ab, da ich befürchtete, dass mein Mann mich dort nicht finden würde. Zurück im Dorf erführ ich, dass auch die Pripjat nahegelegenen Dörfer evakuiert werden. Die Bewohner sahen, dass man uns nicht zurückbrachte, packten ihr Hab und Gut zusammen und verließen in Panik ihre Häuser. Das Vieh wurde in alle mög­lichen Wagen gezerrt oder rannte einfach über die Straßen, die sich bald mit den Autos der Flüchtenden füllten. Die Angst der Menschen war grenzenlos!

Mir selber ging es gesundheitlich schlecht. Ich konnte nichts essen und lag fast ohnmächtig noch einige Tage im Bett, bis die Hauseigentümerin es nicht mehr aus­hielt und den Notarzt rief. Ich erschrak mich darüber so sehr, dass ich nur mit mei­nem alten Jogginganzug bekleidet (alles was mir von meinem früheren Leben übrig geblieben war), wankend durch den Hinterhof in Richtung Hauptstrasse floh. Ich wartete kraftlos darauf, dass eines der vorbeifahrenden Autos anhielte, doch es hielt lange niemand an. Endlich nahm mich der Fahrer eines weißen Lada auf. „An ihrem Jogging­anzug sieht man auf drei Kilometern, wo Sie herkommen. Daher hält keiner an. Ich komme aber selber aus Pripjat.“

Am Rande eines anderen Dorfes, wo er mich hinbrachte, war eine Station eingerichtet worden, wo Bescheinigungen zur Evakuierung ausgegeben wurden. Ich schrieb meinen Antrag nach dem Muster, das an der Wand hing einfach selbst mit der Hand. Nachdem er abgestempelt worden war, lief ich sofort zum Busbahnhof. Nur schnell weg von hier!

Aber es musste zuerst eine Strahlenmessung durchgeführt werden, sonst erhielt man keine Fahr­karte. So musste ich mich abermals in eine riesige Menschenschlange einreihen. Nach der Messung riet mir der Strahlenschutzmeßtechniker, meinen Anzug sofort auszuziehen und weg­zuwerfen – ich hatte aber nichts anderes anzuziehen. Also nickte ich nur, bekam meine Bescheinigung und konnte mir endlich eine Fahrkarte kaufen.

So wurde die junge Stadt Pripjat zu einer Geisterstadt… Als man 160 km vor Kiew das neue AKW baute, gab man ihm den Namen der nächsten Stadt – Tschernobyl. Diese Stadt erlangte später die traurige Berühmtheit, die eigentlich Pripjat zustehen sollte. Wir lebten dort erst ein Jahr, - eine Zeit, der ich immer noch nachtrauere. Mein Mann und ich kamen nach Pripjat aus der Polargegend, wo wir nach dem Studium zuerst einiges Geld verdienen wollten und trotz der Rekordfröste für ganze zehn Jahre geblieben sind. Die Idee, dass man schnell (im Verlauf von nur 3-4 Jahren) eine neue Wohnung in einer jungen aufstrebenden Stadt im grünen Herzen der Ukraine bekommen konnte, lockte uns dahin. Die Stadt war sehr gelungen angelegt. Man sagte, dass in Pripjat die höchste Geburtenrate in der ganzen Ukraine vorlag. Und wirklich, die meisten Familien hatten 2 bis 3 Kinder. Niemand störte sich am Kraftwerk und alle hatten vor, dort lange und glücklich zu leben. Und jetzt war alles vorbei…

…Jetzt aber zurück zum Busbahnhof. An der Vergabestelle der Scheine für die Evakuierung bildete sich eine riesige Schlange aus schweigenden und todmüden Menschen (seit der Havarie waren schon zwei Wochen vergangen und die evakuierten Bürger wurden erst jetzt aus den Dörfern herausgelassen, in denen sie eine Notunterkunft bekommen hatten). Ich gesellte mich zu einer Gruppe von Frauen und Kindern. Alle standen schweigend mit müden, gealterten Gesichtern. Die verstrahlte Kleidung lag neben den Mülltonen, hing auf den Bäumen und Sträuchern. Der Bahnhof von Kiew war mehr als voll. Die Kiewer flohen selber aus der Stadt. Zum Glück bekam man als ehemaliger Einwohner von Pripjat (nach Erhalt der Bescheinigung) vorreservierte Karten und so fiel ich bald kraftlos auf die Pritsche eines erst kürzlich renovierten Waggons, der noch entsetzlich nach Farbe stank.

In Lugansk erwartete mich eine angenehme Überraschung. Obwohl unser Zug um 2 Uhr nachts an­gekommen war, stand dort eine große Menge Taxis bereit, die uns kostenlos fuhren. Meine Mutter hielt ich mit den Worten: "Mama, Vorsicht, ich bin kontaminiert, ich brauche eine Plastiktüte, um die Sachen auszuziehen" auf Abstand. Im Haus meiner Eltern nahm ich zuerst ein Bad. Meine Familie begann mir Fragen zu stellen und erzählte mir, was sie die letzten zwei Wochen durchgemacht hatten. Es stellte sich heraus, dass sie zwei Telegramme von Valerij, meinem Mann, erhalten hatten. Er glaubte, dass ich die ganze Zeit schon hier sei und ließ mir ausrichten, dass er nicht wisse, wann er selber ankommen würde.

Er kam erst Anfang Juni, nach dem ich mich schon im Krankenhaus auskuriert hatte. Man ließ ihn und seine Kollegen lange nicht fort, sie hätten ja schon so viel „abgekriegt“, also sollten sie lieber dort bleiben, warum noch mehr Leute kontaminieren? Ein großer blau-roter Fleck befand sich über seinem Fußknöchel, wie von einer Verbrennung. Es war der radioaktive Grafit, der bei der Explosion überall auf dem Gelände verstreut wurde – die kleinen Bruchstücke lagen versteckt im Boden und strahlten so stark, dass man schon beim Stehen in der Nähe eine Verbrennung bekam. Das letzte Mal kam er im Juli…

Ich bekam 200 Rubel „Begrüßungsgeld“ – von denen ich mich zuerst einmal einkleiden musste, aber nur mit Mühe fand ich ein einfaches Kleid, das ich den ganzen Sommer über trug. Ich fand eine neue Arbeitsstelle, und erfuhr, dass man mir eine Summe zahlen mußte, die meinem damaligen Gehalt in Pripjat entsprach. Es gab wirklich diese Regelung und auch viele andere, jedoch vermieden es die Behörden, uns darüber in Kenntnis zu setzen. Bald stellte sich heraus, dass ich schwanger war – ich war in Panik. Ich hörte, dass man alle Schwan­geren bei der Evakuierung in Extrabussen in ein spezielles Pionierlager brachte – wo man sie zu Abtreibungen zwang. Ich erinnerte mich, dass mein Mann mir eine schreckliche Geschichte erzählt hatte ‑ wie er in der Zone eine Katze mit ihren Neugeborenen gefunden hatte, die allesamt ohne Extremitäten geboren worden waren.

Im Herbst kam das Gerücht auf, dass alle Evakuierten Wohnungen bekommen würden. Ich wendete mich also an die Stadtverwaltung – ja, sagte man mir, aber nicht in Lugansk. Wo sollte ich hin? Alleine, schwanger, eventuell krank. Wovon sollte ich dort leben? Wie sehr ich auch bat, in der Stadt bleiben zu dürfen, in der ich aufgewachsen war, die Behörden ließen sich nicht erweichen. Viele angeblich Evakuierte erkämpften sich Wohnungen in Lugansk, obwohl es nur wenige Familien aus Pripjat in der Stadt gab. Das erregte den Neid der Lugansker über die "Tschernobyl-Leute". Das Nächst­gelegene, was ich bekam, war Sewerodonetzk. Also musste ich, mit einer kleinen Tasche, einer alten Matratze und einem alten Hocker (damals war in der UdSSR Defizit an allem, sogar an Reisebetten) alleine, in der fremden Stadt, in einer leeren Wohnung qualvoll darüber nachdenken – Abtreibung oder Geburt? Wenn das Kind im Bauch still wurde, bekam ich Angst, es sei tot – wurde es wieder aktiv, fragte ich mich, ob es gesund sei. Woher sollte ich wissen, ob es nicht auch fehlgebildet auf die Welt käme?

Bei der Anmeldung in Sewerodonetzk verschwieg ich, woher ich gekommen war. Auch meine Schwan­gerschaft verbarg ich, so lange ich konnte. Erst auf dem Gang zum Kreißsaal eröffnete ich der Ärztin, dass ich aus der Tschernobyl-Zone komme. Ich befürchtete eine Fehlbildung und wollte sie vorbereiten. Das löste natürlich Verstörung aus. Beim ersten Laut des Kindes war meine erste Frage: „Hat das Kind Arme und Beine?“ - „Ja, sie haben einen gesunden Jungen zur Welt gebracht“, hörte ich die Ärztin laut sagen. „Sie sind eine starke Frau“ hörte ich noch. Meine Verwandten wussten nichts von meiner Schwanger­schaft, so bekam ich als einzige keinen Besuch und keine Glückwünsche. Man kann sich vorstellen, wie schrecklich das für mich war.

Meinen Sohn nannte ich Oleg, einfach so, weil ich den Namen gut fand. Und noch die ersten zwei Jahre nach der Geburt hatte ich Angst um ihn: Was wird, wenn er nicht hört, nicht richtig sieht oder nicht zu sprechen beginnt…? Nein, der Junge blieb gesund. Ich hatte Glück mit den Nachbarn, die mich unterstützten und meine Familie half mir, wo sie nur konnte. So lebten wir fünf Jahre in Sewerodonetzk. 1991 kehrte ich nach einer kleinen Odyssee (vier Umzüge in 18 Monaten) endlich nach Lugansk zurück, in das wir uns nur schwer wieder einleben konnten.

Seit dem Sommer 1986 baute mein Gesundheitszustand stetig ab. Als alleinerziehende Mutter mit einem Kleinkind verdrängte ich oft die eigenen gesundheitlichen Probleme. Im Oktober 1994 wurde es aber wirklich schlimm – ich brauchte dringend eine Operation. Hätte ich regulär auf den Termin gewartet, wäre ich sicher schon tot. Es war aber keine staatliche Hilfe, die ich bekam. Es überleben nur wenige Menschen mit meiner Diagnose – zum Glück war ich eine von ihnen. Wenn man schon einmal dem Tod so nahe war, dann verändert dieses Erlebnis den Blick auf das Leben, man schätzt plötzlich jede Sekunde.

Oleg ist nun schon erwachsen und studiert Computertechnologie – schade nur, dass er ohne Vater aufwuchs. Denn mein Mann verstarb schon zwei Monate nach der Katastrophe… Trotz aller Anstrengungen konnte ich für meinen Sohn nicht den Status eines Tschernobyl-Geschädigten erreichen. Ich schrieb an die höchsten Stellen, an Juschtschenko, an Timoschenko. Es hat jedoch nichts gebracht, ich erhielt nur die stereotype Antwort: „im Gesetz nicht vorgesehen“…

Es war einfach eine Fügung des Schicksals – und die Folgen davon müssen wir und unsere Kinder und Kindeskinder tragen…

Valentina Anikejewa

 

 

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