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Lyrik [deutsch - russisch]

Dmitrij Bykow Дмитрий Быков

Puschkin meets Putin

 

Der Dichter Dmitri Bykow erfindet die politische Satire in Russland mithilfe der Klassiker neu (2012)

Von Isolde Baumgärtner.

 

„Ein Herrscher, schwach und sehr verschlagen, / Ein eitler Fratz, der Arbeit Feind, / Versehentlich zu Ruhm geraten, / Er thronte über uns dereinst.“ Diese Zeilen schrieb Puschkin 1823 in seinem Fragment gebliebenen zehnten Teil des „Jewgeni Onegin“ einst über den Zaren Alexander I. Jener Herrscher avancierte in der Historiographie zum „Retter Europas“, nachdem Napoleons Feldzug in Russland so kläglich gescheitert und damit das Ende der französischen Hegemonie in Europa eingeleitet war. Wenn Dmitri Bykow dieselben Verse seinem 2011 verfassten Gedicht „ÖL“ als Epitaph voranstellt, liest jeder gebildete Russe allerdings eine schon nicht mehr versteckte Anspielung auf den heutigen Autokraten im Kreml, der sich nach dem wirtschaftlichen Niedergang der neunziger Jahre gerne als Retter Russlands sehen möchte und von vielen auch so gesehen wird. Nach zwölf Jahren Amtszeit ist ihm noch vor dem Ruhm in der Geschichtsschreibung jedoch vor allem ein anderer Platz gewiss. Putin ist heute schon unbestrittener Hauptheld der neuen politischen Satire, am populärsten und originellsten sind dabei die Klassiker-Parodien des 1967 geborenen Moskauer Dichters, Schriftstellers und Journalisten Dmitri Bykow. Die aus Anthologien und Schulbüchern wohlbekannten Poeme und Gedichte von Puschkin und Lermontow, Nekrassow und Majakowski, Blok und Brodski, Volkslieder und Romanzen oder auch schon mal Hamlets Monolog erleben unter der spitzen Feder Bykows eine Mutation zu witzig-frechen Kommentaren zum Zeitgeschehen. Wo deren Niederungen und Tiefpunkte – zum Beispiel die Wahlen bzw. Wahlinszenierungen, der Chodorkowski-Prozess, allerhand peinliche Aussprüche oder Ideen von Bürgermeistern, Gouverneuren, Ministern und vor allem dem „Kremltandem“ Putin und Medwedew –, in ziselierte Kunstformen gegossen, gleichsam der erhabenen Höhenluft der geliebten Klassiker ausgesetzt sind, lässt sich die moralische Fallhöhe spielerisch und lustvoll zelebrieren. Wie jeder russische Dichter, der etwas auf sich hält, versteht Bykow das Handwerk der Versschmiede perfekt, seine Jamben und Reime sind nicht weniger leichtfüßig und geschmeidig wie die Originale.

 

In Russland gewann diese sowohl traditionsgebundene wie neue Form der Satire ihre Popularität allerdings erst in der kabarettistischen Aufbereitung durch den Schauspieler Michail Jefremow. Der Sohn des bekannten Regisseurs Jefremow schlüpft beim Rezitieren der Bykowschen Gedichte zugleich in die Pose oder Rolle des jeweiligen Klassikers, der die Vorlage zur Parodie liefert. In kurzen, drei- bis vierminütigen Videofilmen oder auch live auf Moskauer Theaterbühnen konnte man den Schauspieler in seinen Verwandlungen als zylindertragenden Puschkin, als Jessenin im Bauernhemd, als Okudschawa mit Gitarre oder verächtlich blickende Majakowski-Imitation sehen. Das unter dem Titel „Der Dichter als Bürger“ von Andrej Wassiljew produzierte Programm wurde aus naheliegenden Gründen bisher nie im staatlich kontrollierten Fernsehen gezeigt. Nach fünf Sendungen auf dem privaten Fernsehkanal „Doschd“, dem offensichtlich die schonungslose Verballhornung der Regierung zu weit ging, liefen die Videos auf dem ebenfalls privaten Sender „F5“, der dem russischen Milliardär und Präsidentschaftskandidaten Prochorow gehört (was letzteren allerdings nicht davor feite, selbst zum Gegenstand eines Gedichts zu werden). Darüber hinaus wurden sie von dem beliebten Radiosender „Echo Moskwy“ (bei dem inzwischen die Gazprom Media Group die Mehrheit der Anteile hält) ausgestrahlt. Ihre größte Verbreitung, vor allem beim jüngeren Publikum, fanden die Kabarettstücke allerdings auf YouTube, wo sie von Hunderttausenden, und im Falle der Satire „Putin und der Bauer“ sogar von über einer Million Nutzern aufgerufen wurde. Es wundert daher nicht, dass das Bykow-Jefremowsche Internetkabarett 2012 den Publikumspreis der Deutschen Welle in einer Sparte seines Blog-Awards bekam.

 

Inzwischen ist das gleichnamige Buch „Der Dichter als Bürger“ bereits in zweiter Auflage erschienen, das zusammen mit Texten und Bühnenfotos und gespickt mit witzigen Anekdoten zur Entstehung eine Auswahl-CD der Video-Rezitationen enthält. Hier liest man auch erstmals die – einer vermeintlichen Selbstzensur zum Opfer gefallene – Eloge, die Bykow anlässlich einer Einladung des Kremlchefs zum Treffen mit Kulturschaffenden in der heißen Phase des Wahlkampfs verfasst hatte. Das Gedicht „Für alles, alles dank ich dir“ ist eine Lermontow-Parodie, die im Original eine Absage an eine bittere Liebesromanze enthält. In der Bykowschen Travestie wird dem Kremlchef ebenfalls überreich gedankt, allerdings nicht ganz im hymnischen Sinne: „für deine Bärenarbeit und Pferdestärke, für den Metallklang in deiner Stimme und den harten Stil, für die Krise, die ohne Default an uns vorüberging, für unser Parlament, das nur im Chor denkt, dafür, dass du der zuverlässigste Wächter des Fortschritts und Kompass der Modernisierung geworden bist“ usw. Und wie bei Lermontow enden auch Bykows Verse mit dem ironischen Clou: „Doch bitte richte es in Zukunft so ein, dass ich nicht länger dankbar muss dir sein.“

 

Bykow, der, ebenso wie Jefremow, bereits die zweite Einladung zum Treffen mit dem Kremlherren ausschlug, repräsentiert durchaus auch in Wirklichkeit den Dichter als Staatsbürger. Als Autor regelmäßiger Glossen, journalistischer Beiträge und Interviews gehört er zusammen mit dem auch hierzulande bekannten Krimiautor Boris Akunin, der Schriftstellerin Ludmilla Ulitzkaja und anderen Künstlern, Journalisten und Bürgerrechtlern zur neuen oppositionellen Intelligenzija, die sich einmischt. Bykow war einer der sechzehn Begründer der „freien Wählerliga“, die sich Anfangs des Jahres 2012 für freie und faire Wahlen eingesetzt hat, eigene Wahlbeobachter rekrutierte und sich als Vorstufe zu einer neuen Bürgerbewegung in spe begreift. Sie definierte sich explizit als überparteilich, auch in Abgrenzung zum programmlosen Populismus und bisweilen Obskurantismus der unbeliebten politischen Opposition, die –Wahlmanipulation hin oder her – zumindest bisher für weite Kreise der Bevölkerung keine überzeugende Alternative darstellte. So war Bykow nicht nur auf Moskaus Straßen während der großen Demonstrationen im Frühjahr 2012 präsent, sondern er lief während der Wahlkampfzeit zu satirischer Hochform auf. Die Warnung Putins an die Opposition, „das Boot nicht zu sehr zu schaukeln“, münzte er auf seinem Protestplakat zu einem der provokantesten Slogans um: „Schaukelt nicht zu sehr das Boot, unserer Ratte wird es schlecht“ – darunter war die Karikatur des sich übergebenden Nagetiers zu sehen. Auch die auf einer beliebten russischen Internetplattform gezeigten Videoclips, in denen junge, langbeinige Schönheiten T-Shirts mit dem Konterfei Putins tragen und den Slogan „Ich werd’ zur Bestie – für Putin“ riefen, fiel seinem hemmungslosen Spott zum Opfer. In seiner lyrischen Gegenwehr (deren Titel man aufgrund des darin verwendeten unübersetzbaren Wortspiels vielleicht am ehesten als „Schizoschund“ wiedergeben könnte) stellt er den „kaninchenäugigen“ T-Shirt-Mädchen eine ganze Reihe von Typen zur Seite, die für Putin alles tun, nicht zuletzt den russischen Säufer, der, sich erbrechend, deklariert „Alles für Putin“.

 

Trotz dieser rotzfrechen Hiebe, die sich Bykow in seinen künstlerischen Texten nach allen Richtungen auszuteilen erlaubt, ist hingegen das politische Engagement des Dichters auf eine Stimmlage der Vernunft und Mäßigung, bar jeglichen Hasses oder Extremismus, ausgerichtet. Zuletzt bewies er dies unlängst beim „Marsch der Millionen“ am 14. September 2012, als er auf dem Sacharow-Prospekt an die schweigende, passive abwartende Bevölkerung appellierte, sich der zivilgesellschaftlichen Bewegung anzuschließen: „Fürchtet euch nicht! Kommt aus euren Häusern! Ihr müsst hier keine Angst haben. Ein Mensch zu sein, ist nicht schwer, eine Null zu sein, ist viel schlimmer. Wir werden es nicht zulassen, dass sich unser Land in ein mittelalterliches Ungeheuer von Dunkelmännern verwandelt.“

 

Das Satireprogramm „Der Dichter als Bürger“ wurde nach dem Wahlsieg des Hauptprotagonisten im März 2012 eingestellt. Aber der umtriebige Lyriker, den man in seiner Vielseitigkeit als Romancier, Publizist und Literaturhistoriker (eine preisgekrönte Pasternak-Biographie stammt aus seiner Feder) nur als energiegeladenen Tausendsassa kennt, scheint seine Feder offensichtlich nur im Schlaf beiseite zu legen. Denn am 3. Oktober 2012 startete das fröhliche Trio Bykow – Jefremow – Wassiljew mit einem neuen Programm. „Ein guter Herr“ heißt es, und wer der Hauptheld des neuen Kabarettformats ist, ist nicht schwer zu erraten. Neben einigen wenigen Klassikerparodien, die in einem textuellen „Upgrade“ aktualisiert wurden, stehen nun vor allem musikalische Stilparodien im Vordergrund, mal Rap, Schlager oder das sogenannte „Lager-Chanson“, das Bykov neben dem Witz für eine genuin russische Form der Volksdichtung hält.

 

Die folgenden Kostproben stellen den Versuch dar, den Bykowschen Humor erstmalig ins Deutsche zu importieren. Die Treue beim Übersetzen des gebundenen Originalverses, darunter die berüchtigte Oneginstrophe (über deren Unübersetzbarkeit sich schon Nabokov ausließ) wurde an zwei, drei Stellen mit der Freiheit des Nachdichtens und dem Einschmuggeln ideenverwandter Verse erkauft.

 

Der Exportschlager „Ö-L“, ein 2010 verfasstes Gedicht, hat an Aktualität leider nicht viel eingebüßt. Auch in Lermontows bösen Versen „Leb wohl, du schmutzges Russland“ hinterlässt Bykow seine eigenen Fußabdrücke in satirisch-aktueller Schuhgröße. In seiner Version „Bitte keinen Schmutz“ lässt er den Kremlchef in die romantische Pose des an Ennui und Desillusion leidenden Helden des neunzehnten Jahrhunderts treten, der zum Schluss das Vaterland flieht, manchmal sogar – wie eine der Selbstinszenierungen Putins zeigte – an der Spitze eines Kranichzugs … Was man bei der Lektüre dieses Gedichtes an Kenntnis innerrussischer Verhältnisse vorausschicken muss, ist etwa eine Tatsache, auf die die viertletzte Strophe anspielt. Im Jahr 2011 ließ Medwedew ein Gesetz verabschieden, demzufolge die Sommerzeit zur Ganzjahreszeit erklärt wurde. Dies führte nicht nur zu einer zusätzlichen Stunde Zeitverschiebung im Vergleich zum Rest Europas, sondern auch zum Missmut der Bevölkerung im darauffolgenden Winter, der nicht mehr hell wurde. Der Premierminister kündigte daraufhin an, sich um die unpopuläre Zeitumstellung kümmern zu wollen. In der vorletzten Strophe begegnet man dem Namen Ramsan Kadyrows, dem von Putin installierten Präsidenten von Tschetschenien. Bei diesem Gedicht wird in der deutschen Übersetzung ausschließlich das Wort „Rus“, das altslavische Wort für Russland, verwendet.

 

Das ernste Gedicht „Alles lenkt ab von der Hauptsache …“ war das erste Gedicht, das Bykow nach der Ermordung von Boris Nemzow 2015 veröffentlichte. Ohne dieses Ereignis zu erwähnen, scheint es ganz durchdrungen von Resignation und Bitterkeit.

 

 

НЕ-ФТ (2011)

Ö-L

Ein Herrscher, schwach und sehr verschlagen,

ein eitler Fratz, der Arbeit Feind,

versehentlich zu Ruhm geraten:

er thronte über uns dereinst.

Alexander Puschkin, Evgenij Onegin

 

Erschüttert wanken Pyrenäen,

Ägypten, Tunis – alles wankt,

Der Nasdaq zittert von dem Beben,

Und dem Dow Jones droht Untergang.

Im Nahen Osten droh’n die Massen

den Herrschern, ihren lang verhaßten,

ein wild gewordener Islam

liebt Knochentänze ohne Scham.

Empört von diesen Ungeheuern

sind andʾre – doch nicht wir,

denn wem gereichtʾs zum Vorteil hier,

sobald das Erdöl sich verteuert?

Dem Kremltandem und dem Russʾ,

der Borschtscht nun ißt im Überfluß.

 

Es bebt das Meer und seine Wogen,

erreichen bald ein Kernkraftwerk.

Vor solch globalen Katastrophen

schrumpft jeder Philosoph zum Zwerg,

Und Fukushima stand in Flammen,

und Hilfe, weltweit, kam zusammen.

Und täglich: „Bald ist es im Griff.“

Tschernobyl! Wer erinnert sich?

Zerfall – er macht die andren leiden

(an Bonus, Tonus), doch nicht uns.

Ja trauert ihr! Für uns kein Grund,

sobald die Erdölpreise steigen,

denn seht: hier ändert sich nicht viel

am Lug und Trug und Mienenspiel.

 

Ein KGBler als Messias.

Ein Sumpf wird wieder unser Volk.

„Vereintes Rußland“ zieht jetzt wieder

von Wahlerfolg zu Wahlerfolg.

Die Nachbarn freut’s: Olympiaden,

- die Ehr muß Rußland künftig tragen.

Und friedlich ruht der Kaukasus,

so eng verschnürt und ohne Luft.

Im „Bentley“ fahren die Eliten,

die andern fahren Hamsterrad – .

All dies verzeiht der Westen, klar,

er sieht, das Barrel steigt schon wieder:

Derweil er wortreich sich verrenkt,

steigt es um knappe 10 Prozent.

 

Europa will den Euro retten.

Malochen ist jetzt angesagt.

Weltweites Ächzen, neue Wetten.

Obama steht zur Wiederwahl.

Nahost wird sich im Krieg verzehren,

Fernost die nächste Flut verheeren.

Und aus den Fugen ist die Welt,

versinkt in Schmutz und Schlamm und Geld.

Und unser Dach, sieh hin: schon heuer

hängt’s schief und wird noch unser Grab.

Gerechter Gott! Am Jüngsten Tag –

wie wird erst da das Erdöl teuer!

Wie schade nur, daß niemand dann

das schwarze Zeug noch brauchen kann.

 

 

НЕ НАДО ГРЯЗИ (2011)

Bitte keinen Schmutz!

 

Leb wohl, mein Rußland, schmutz’ges Land,

Wo Herren nur und Sklaven leben,

die blaue Uniform, die strenge Hand,

ein Volk, gehorsam ihr ergeben!

Michajl Lermontov, 1840

 

„Ich gehe mich waschen. Nach all den Kampagnen die einem noch bevorstehen,

wird man sich vor allem mit Hygiene beschäftigen müssen.“

(V.V. Putin 2011 in Jekaterinburg auf die Frage,

 womit er sich nach den Wahlen befassen werde.)

 

Was nun, du meine unreinliche Rus?

wo Herren nur und Sklaven leben,

dich abzuschrubben habe ich versucht,

doch solcher Dreck bleibt lange kleben.

 

Nicht als Prinzessin hab ich dich empfangen,

als du zerrissen, ausgenommen warst,

voll Sudelpresse, voller Schmutzkampagnen,

auch saub’re Wahlen man nie sah.

 

Und all das Geld: besudelt war’s gewesen,

denk an Guskinskijs, – Gott erbarm.

Ich nahm den eisernen Tschekistenbesen,

dich auszufegen war mein Plan.

 

Ich brüllte laut, verteilte Backpfeifen,

und hob das Vaterland von seinen Knien,

und jagte fort die Schmuddeloligarchen,

und pflanzte neue Sorten hin.

 

Und gleichgeschaltet hab ich alle Medien,

wie’s bei uns Brauch war lange Zeit.

Ich nahm zu mir die schmutzigen Moneten

und wusch sie wieder blütenweiß.

 

Und nichts davon kam mehr abhanden,

jetzt schweigt das Kritikasterheer.

Unsaub’re Wahlen – sie verschwanden,

denn Wahlen gab’s jetzt gar nicht mehr.

 

Da brach herein die unsägliche Krise

im Way of Life der USA,

auch wir, wir machten plötzlich Miese,

doch fieser Schmutz war reichlich da.

 

Rußland: – welch großer flacher Teller!

Jonglier mit ihm, wie’s dich erfreut!

Wie schad’: – bevölkert ist der Teller,

Wie sauber wär er ohne Leut.

 

Der nächste Sommer steht zur Wahl,

das Volk schwenkt Fähnlein, bunte Wimpel,

daß keine zwei zur Auswahl steh’n – fatal,

doch anderthalb sind es zumindest.

 

Leb wohl, du durchverseuchte Rus!

Ich bin jetzt anders, du nicht mehr dieselbe,

vielleicht gibt’s hinter’m Kaukasus,

der Reinheit Inbegriff und Quelle.

 

Denn reingewaschen, rein wie Schnee,

hab ich dort die Problemregion.

Kadyrow bleibt mein treuster Protegé,

doch was mach’ ich, wo er schon thront?

 

Ich gehe fort, ruhmlos verkannt,

und werfe den Besen hin samt Eimer.

Leb wohl, mein unreinliches Land,

du unverbesserliche Heimat.

 

 

Все отвлекает от главного... (2015)*

 

Là, sotto i giorni nubilosi e brevi,

Nasce una gente, a cui 'l morir non dole.

Petrarca

 

Alles lenkt ab von der Hauptsache, mal ein Schuß,

mal eine Reise nach Westen, mal der Weg zurück …

Etwas zu tun, wofür man sich nicht schämen muß,

sich zu besinnen – all dies ist nicht geglückt.

 

Alles lenkt ab vom Wichtigsten – sei’s ein Pogrom,

sei es die (furchtbar zu sagen) historische Nacht.

Statt mit dem Guten zu leben in der Zeit, die sich lohnt,

hab' ich die Zeit mit dem Übel kämpfend verbracht.

 

Alles lenkt ab vom Notwendigen: sei’s das Verbot

eines Journals, eines Films oder Bühnenstücks,

sei es die scheußliche Angst, die seit Jahren droht,

dich zu fressen: von kleinlicher Angst bedrückt.

 

Für jeden Furz wird man heute angeklagt.

Am stillen Ort, im Bett wird man verfolgt,

Ob seiner Blutgier macht man auf Hasen Jagd.

Ob seiner Menschlichkeit wird gestreichelt der Wolf.

 

Frech ihr Gekläff - mit Blick auf das Volk

und originell – wie sie das Hirn sich verrenken:

Richter der Muse und des ungeschminkten Worts,

und was sonst sie noch tun, um uns abzulenken.

 

Lenke dich ab! Sieh doch die Blumen – wie bunt!

Ja, es ist alles so bunt und blumig gemacht.

Inmitten der Blumen, im Schatten blühender Linden

Laufen die Kinder umher – wie zum Kontrast.

 

Furchtbar besudelt habt ihr alles, und dazu

Selbst eure Mutter, inniger vielleicht.

Doch mit dem Blick auf die Welt sinkt mir der Mut,

weshalb bleibt man ihr zugeneigt?

 

Daher ist’s schön, in Rußland zu sterben,

weil nach dem Tod auch all dieser Dreck erlischt.

Brjussow erfand den Reim: „barmherzig werden“.

Furchtbar zu sagen, daß er stimmig ist.

 

Heimat, ich stehe hinter dir wie ein Berg,

wenn auch alleine und nicht in Formation.

Machst du auch sinnlos mein Leben und Werk,

Furchtlos machst du indes meinen Tod.

 

* Erstveröffentlichung in „Novaja gazeta“, 4.4.2015. Das unvollständige Zitat aus Petrarcas Canzoniere, XXVIII (es fehlt der Zwischenvers „Nemica naturalmente di расе“) wurde von Puschkin in dessen Evgenij Onegin verwendet, dort dem sechsten Kapitel vorangestellt. Bykow verweist selbst kurz in einer Einleitung auf diesen Ursprung. Die Verse lauten: „Dort, wo die Tage bewölkt und kurz sind (…), wird ein Geschlecht geboren, dem das Sterben keinen Schmerz bereitet.“

 

© Deutsche Übersetzungen: Isolde Baumgärtner

 

 

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