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Auf französischer Erde

Gasdanow, Gajto, Auf französischer Erde. Dokumentarische Prosa. [Auszug]

Quelle: На французской земле, Sobranie sočinenij v pjati tomach, Moskau 2009, Bd. 2, S. 639-643.

 

Am folgenden Tag saß ich bei den jungen Mädchen und befragte sie, woher sie seien, wie sie nach Frankreich geraten und wie sie aus der Gefangenschaft geflohen seien. Eine von ihnen, Maria, begann zu erzählen, wie die Deutschen ihr Dorf niedergebrannt und sie nach Deutschland gebracht hätten. Ich habe solche Geschichten viele Male gehört, eine der anderen ähnlich, wie alle Geschichten aus dem Krieg. Die Wahrnehmung des Zuhörers stumpft gewöhnlich schnell ab durch solche Sachen, und all diese Geschichten rufen nicht jenen Eindruck hervor, der einen nicht mehr verläßt. Die große Mehrheit der Leute sind imstande, die allertragischsten, allerschrecklichsten und interessantesten Dinge so zu erzählen, daß es ziemlich langweilig ist, sie anzuhören, und abgesehen von dem rein menschlichen Mitgefühl, rufen sie gar keine anderen Gefühle hervor. Man kann sogar die erschütterndsten Fakten so berichten, daß von ihnen nichts zurückbleibt. Alle, die schon beispielsweise Kriegsgeschichten gehört haben, wissen das nur zu gut. In solchen Fällen tut mir gewöhnlich derjenige leid, der erzählt, denn diese furchtbaren Ereignisse, die ihn für sein ganzes Leben erschüttert haben, wirken in seiner Darlegung blaß und kraftlos und bewirken nicht jenes rasende Mitgefühl, das sie eigentlich hätten hervorrufen müssen. Ich war also vorbereitet, mit dem mir schon lange vertrauten Gefühl von Mitleid, Sympathie und Unbehagen das anzuhören, was Maria sagen würde.

Aber kaum erklang ihre erstaunliche Stimme, vergaß ich alles, was um mich her geschah. Das kam einer tragischen Magie gleich, die von der Stimme und den Klängen gleichermaßen herrührte. Mit einer solchen Stimme konnte man natürlich alles mögliche erzählen, und alles wurde interessant. Ich schloß von Zeit zu Zeit die Augen, um diesen ungewöhnlichen und langsamen Wechsel der Intonationen besser zu hören, diesen traurigen Strom der Klänge, der in der Dunkelheit floß. Außerdem beruhte die Erzählung Marias, die mit einer ebensolchen unbewußten wie tadellosen Kunst aufgebaut war, darauf, daß sie nicht das Geschehene beschrieb bzw. sich nicht lange damit aufhielt, sondern auf einzelne Besonderheiten zu sprechen kam, die sich ihr eingeprägt hatten. Niemals in meinem Leben war mir eine derartig verblüffende, derartig vollkommene Kunst untergekommen. Sie kam aus dem Minsker Gebiet und sprach Russisch mit einer Menge Fehlern, das spielte keine Rolle. Ihre Erzählung, dachte ich, könnte selbst den gefühllosesten Menschen zu Tränen rühren. Ich könnte sie niemals wiedergeben; selbst eine stenographische Mitschrift könnte nicht die notwendige Vorstellung von ihr vermitteln. Ich behielt aus ihr lediglich einige Sätze.

Sie erzählte, wie die Deutschen ihr Dorf niederbrannten und sie zusammen mit ihrem kleinen Bruder weglaufen konnte. Ihn an der Hand kehrte sie nach drei Tagen dorthin zurück, um noch einmal den Ort zu sehen, wo sie geboren worden und aufgewachsen war.

„Ich und mein Brüderchen, wir beide kamen dahin“, sagte sie, „und alles ist wüst, schrecklich und schwarz, es stehen nur noch die angekohlten Wände, und ringsumher herrscht eine solche Totenstille: Nur der Sommerwind weht und trägt die letzten Rauchschwaden fort. Da war unser Leben zu Ende. Wie viele Jahre haben wir gebaut, haben gedacht und geliebt – und innerhalb von drei Tag ist nichts mehr da außer einem Riesenfeuer. Ich ging zu der Stelle, wo unser Haus stand, und plötzlich habe ich in meiner Hand, ich weiß nicht wie, ein Stück Kreide. Und ich schrieb, ich weiß nicht, warum, quer über die schwarze Zunge, die das Feuer auf der Wand zurückgelassen hatte, diese Worte: Alles war Heimat und vertraut, alles wurde fremd und ist nicht mehr wiederzuerkennen. Wozu ich das schrieb, weiß ich bis heute nicht, Dann sehe ich, daß ein Hund gelaufen kommt, ich erkenne ihn, es ist der der Nachbarn. Die Hunde sind damals auch in alle Richtungen geflohen wie die Leute, und sie hatten nichts zu fressen. Der Hund kommt gelaufen, und ich sehe, daß er etwas im Maul hat, aber er kommt nicht näher, er ist schon scheu geworden. Also gehe ich näher an ihn heran, und da sehe ich, daß er die Hälfte eines Kinderleichnams in den Zähnen hält. Wahrscheinlich hat er ihn gefunden, zur Hälfte gefressen, und die andere Hälfte ist er gerade im Begriff irgendwo zu vergraben: Hunger hatten die Menschen, Hunger hatten die Hunde.“

Wo konnte sie gelernt haben so ungewöhnlich zu erzählen, dieses einfache Dorfmädchen, wer hat es ihr erklärt, wie man erzählen muß? Das war ein großes Naturtalent, und selbst der beste Schauspieler hätte sich sicher vor ihr verbeugen müssen. Ich erinnere mich an ihren Tonfall, der einem im Herzen tatsächlich einen physischen Schmerz bereitete, als sie erzählte, wie man vor ihren Augen ihre Schulfreundin, ein jüdisches Mädchen, wegführte, um es zu erschießen, nur weil sie jüdisch war, und wie sie zu dritt mit der Freundin noch dastanden und das Mädchen ausrief: „Lebt wohl, Mädchen!“ – Dieses „Lebt wohl“ dröhnt bis heute in meinen Ohren, und ich bin sicher, daß ich diesen Klang nie vergessen werde. Später sagte sie noch: „Und, was wollt ihr denn? Das kann man ihnen nicht vergeben.“

Ich spürte die Kälte, die mir diese Worte über den Rücken jagte, diese furchtbare shakespearegleiche Kraft des Ausdrucks.

Ich ging an jenem Abend vollkommen zerschlagen von dort weg; während ich durch die menschenleeren Straßen einer französischen Stadt schritt, spürte ich das erste Mal, daß mit ihrer Geschichte gleichsam die Riesenlast von Tausenden und Abertausenden unwiderrufbarer menschlicher Tragödien über mich hereinbrach, denen meine Heimat zum Opfer gefallen waren. Und ich sah mit einer Klarheit wie nie zuvor diese verbrannten Städte und Dörfer, diese Zehntausende russischer Leichen, hungriger Köter, die sich von den toten Körpern der Menschen ernährten und jenen unermeßlichen Schatten der Vergeltung, der sich im Lärm der Panzer und Waffen, im Staub, bei Hitze und Schnee so entfesselt auf Deutschland zubewegt.

 

 

In jener Stadt erfuhr ich noch von einer anderen Episode aus dem Partisanenkrieg. Der Mann, der der Held dieser Geschichte war und jedes Mal beharrlich schwieg, wenn die Sprache auf seine persönliche und unmittelbare Beteiligung am Kriegsgeschehen kam, legte jene unerschütterliche Hartnäckigkeit an den Tag, die die meisten Führer dieser Bewegung auszeichnete. Er war Russe und lebte schon lange in Frankreich - seit der Landung des russischen Expeditionskorps im letzten Krieg. 1939 hatte er sich als Freiwilliger zur französischen Armee gemeldet, war am 17. Juni 1940 in Gefangenschaft geraten, am 6. November desselben Jahres geflohen und begann unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Frankreich damit, terroristische Gruppen zu bilden. Seit 1942 beschäftigte er sich mit normalen Partisanenoperationen, die einer sorgfältigen Vorbereitung bedurften und die mit einem unglaublichen Risiko verbunden waren. Er machte elektrische Anlagen für Hochspannungsleitungen und die Transformatoren eines Staudamms unbrauchbar. Eine Explosion folgte der nächsten, und zu dieser Zeit legte seine Gruppe Hinterhalte und griff die Deutschen auf offener Straße an. All das geschah in einer für die Deutschen wichtigen Region, in der sich ein riesiges Elektrizitätswerk befand, das die Eisenbahnlinien, die nach Paris und in den Südwesten führten, mit Strom versorgten, nebst den Fabriken, die deutsche Produktionsaufträge ausführten.

Im Juni 1944 hatte er das Kommando über eine Truppe von 245 Leuten, von denen 27 sowjetische Partisanen waren. Auf dem Staudamm, den die Deutschen besetzt hielten, arbeiteten auch sowjetische Kriegsgefangene. Mit ihnen stand er in ständigem Kontakt und erhielt dadurch eine Menge wertvoller Informationen. Sie warnten ihn vor allen deutschen Truppenbewegungen, der erwarteten Ankunft von Kriegsgeräten oder Verstärkung. Und jedes Mal, wenn die Warnung rechtzeitig kam, griffen die Partisanen die Deutschen auf den Straßen an.

Um sich mit den sowjetischen Gefangenen zu verständigen, sie mit Essen zu versorgen und von ihnen notwendige Informationen zu erhalten, beschritt er einen etwas ungewöhnlichen Weg. Eine Madame S., die Französin war und die er in den höchsten Tönen lobte, begab sich jeden Tag mit einem großen Korb Reisig, der mit Essen für die Gefangenen voll war, in den unmittelbar beim Lager gelegenen Wald. Sie übergab den Gefangenen den Proviant und erhielt im Gegenzug von ihnen ausführliche Nachrichten. Einmal jedoch waren die Deutschen den sowjetischen Gefangenen gefolgt, wie sie in den Wald gingen. Zum Glück konnte Madame S. rechtzeitig den Proviant verstecken, und als die Deutschen sich ihr näherten, sahen sie lediglich eine Frau, die friedlich Reisig sammelte. Die Mündung eines deutschen Gewehrs vor Augen erklärte sie, daß sie deswegen in den Wald gegangen sei. Ich nehme an, sie verfügte über eine ausgesprochene Selbstbeherrschung, denn sie sprach in einem vollkommen ruhigen Ton, wie eine Frau, die ganz offensichtlich ahnungslos ist und dabei so überzeugend, daß die Deutschen sie in Ruhe ließen.

Der Anführer der Partisaneneinheit, der über die bevorstehende Ankunft von alliierten Luftlandetruppen Bescheid wußte, warnte die sowjetischen Gefangenen, daß es Zeit für sie wäre zu fliehen. Aber sie wurden so bewacht, daß dies nur zwei von ihnen gelang. Die restlichen wurden gezwungenermaßen zusammen mit den Deutschen evakuiert.

Bei ihrer Abfahrt war er zugegen und registrierte, daß sich alle Sowjetrussen am Ende der Transportkolonne befanden. Ich weiß nicht, wie und wann er das geschafft hat, aber er schaffte es, sowohl die Partisanen in dieser Region als auch die sowjetischen Gefangenen zu verständigen. Den Partisanen teilte er mit, daß sich am Kolonnenende sowjetische Gefangene befänden und den Gefangenen teilte er mit, daß sie fliehen sollten, sobald die Deutschen überfallen würden. Das Ganze wurde mit einer ausgesprochenen Präzision ausgeführt: Die Deutschen wurden zerschlagen, und alle Gefangenen konnten fliehen. Sie schlossen sich sogleich seiner Einheit an.

„Was mich angeht“, schrieb er mir, „so habe ich nur meine Pflicht gegenüber der Heimat und der Menschheit getan.“ Und weiter: „Seit meinem 18. Lebensjahr nahm ich an dem Kampf für die Freiheit teil.“

Damit erschöpften sich schon seine persönlichen Auskünfte über sich selbst. Natürlich erfüllte er seine Pflicht, natürlich war er ein Patriot. Aber wäre die Anzahl der Menschen, die ihre Pflicht gegenüber der Heimat und der Menschheit auch so verstanden und so erfüllt hätten, größer gewesen, hätten wir meiner Meinung nach das Jahr 1939 und alles, was danach kam, vermeiden können. Und vielleicht wäre dann überhaupt die Geschichte der Menschheit schon seit langem weniger grausam und weniger tragisch.

 

 

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