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Der Geburtsort

Nach welchem Gesetz wurde ich in Tscheremschan geboren? Wer könnte das erklären? Manchmal werde ich nachdenklich und wundere mich: Um geboren zu werden, bedurfte es des Zweiten Weltkriegs. Es bedurfte des Hitler-Stalin-Paktes 1939, als dessen Folge die Sowjetunion Rumänien bald das bessarabische Gebiet wegnahm. Und mein zukünftiger Vater Simon Bronstein unfreiwillig das Land wechselte. Er war rumänischer und wurde sowjetischer Staatsbürger. Ich ergänze, dass die kleine Stadt Edineț, in dem mein Vater geboren wurde, samt Bessarabien vor der Oktoberrevolution zu Russland gehörte, so dass die Reiseroute der Einwohner dieser Orte, die niemals umgezogen waren, in Russland – Rumänien – UdSSR bestand.

Waffen vertraute man den frischgebackenen Bürgern der Sowjetunion nicht an, und so kam mein Vater während des Krieges an keinem anderen Ort unter als im Dorf Tscheremschan in der autonomen tatarischen Republik. Irgendeine Unterabteilung des Volkskommissariats für Beschaffung schickte ihn dorthin als Fachmann für Getreide. Das war ein großes Glück. Unter Stalin konnte ein Mensch aus dem königlichen Rumänien an einen weitaus entfernteren Ort geschickt werden.

Zu jener Zeit kehrte aus dem Kinderwaisenhaus von Bugulma das junge Mädchen Taissija Kirillowa ins heimische Tscheremschan zurück. Und wie hätte es dann anders kommen können, als dass ich geboren würde …

Aber warum so kompliziert? Wenn ich für etwas Bestimmtes auf diesem Planeten gebraucht wurde, warum musste irgendjemand dort oben unbedingt einen Weltkrieg wegen mir organisieren?

Ich bin am 10. Dezember 1945 auf die Welt gekommen, in meiner Geburtsurkunde hat man den 1. Januar 1946 eingetragen. Man hätte auch etwas anderes eintragen können. Ich war, wie es damals hieß, ein illegitim geborenes Kind. Nein, mein Vater hat mich nicht verleugnet, er hat mich sogar sehr geliebt. Er war schon 44 Jahre alt und hatte bis dahin keine Kinder (er war zwar früher in Rumänien verheiratet gewesen, aber hatte sich von seiner Frau schon vor dem Krieg getrennt). Als der Krieg zu Ende war, hätte er in seine Heimat zurückkehren können, die nun schon die Moldauische Sowjetrepublik hieß. Aber wegen mir blieb er in Tscheremschan, obwohl er (mit oder ohne Familie) auch dort nicht wusste, wo er leben sollte. Ich vermag nicht zu sagen, wo und wie mein Vater und meine Mutter bis zu meinem fünften Lebensjahr hausten. Sie erzählten, in fremden Häusern, hinter einem Vorhang. Dann schlug man meinem Vater eine Arbeit bei einem Getreidespeicher im Dorf Mursicha an der Kama vor – mit Überlassung eines Zimmers in einem barackenartigen Haus. Und nachdem er meine Mutter geheiratet hatte und ich legitim wurde, zog die Familie zusammen mit der Großmutter nach Mursicha.

Die Freude, in einer Baracke zu leben, währte allerdings kurz. Der Bau des Kujbyschew-Wasserkraftwerks war schon im Gange, die Wolga und die Kama ergossen sich über das Land, und das Dorf, in dem wir zwei Jahre lebten, gehörte zum Überflutungsgebiet. Es blieb uns nichts anderes übrig, als nach Tscheremschan zurückzukehren. Dabei konnten wir auch in Tscheremschan nichts unser Eigen nennen. Ein Haus (ein gewöhnliches Dorfhaus) konnten wir erst nach zwei Jahren bauen. Es war selbstverständlich primitiv, aber immerhin gab es unserem Tor gegenüber einen Ziehbrunnen.

Es ist bemerkenswert, dass ich in Mursicha auch eine Art Schulbildung erworben habe. Erstens natürlich die öffentliche Bildung: Meine Eltern arbeiteten von morgens bis nachts am Getreidespeicher, während ich auf der Straße erfolgreich meinen Wortschatz bereicherte. Zweitens die Schulbildung, die nicht ganz den Regeln entsprach. In die erste Klasse nahm man mich nicht auf, weil ich erst in den darauffolgenden Winterferien sieben Jahre alt wurde. Ich saß also im ersten Halbjahr zuhause und las Bücher. Ich verschlang alles, was mir in die Hände fiel, bis ich auf ein ungeahntes Hindernis stieß. Mein Vater besaß ein Büchlein vom Scholem Alejchem auf Jiddisch (mein Vater konnte mehrere Sprachen, unter anderem Hebräisch und Jiddisch). Natürlich habe ich erst später herausgefunden, dass das Büchlein in Jiddisch geschrieben war. Damals knüpfte ich es mir vor und musste feststellen, dass ich diese Buchstaben nicht kannte. Die Wörter setzten sich aus irgendwelchen kleinen Angelhaken zusammen, und dass man überdies von rechts nach links und vom Ende zum Anfang des Buches lesen muss, versetzt mich bis heute in Staunen. In dem Augenblick begriff ich, dass es mir an Bildung ermangelte, und erhob Zeter und Mordio: „Ich will in die Schule!“ – wohin man mich auch brachte, damit ich dort säße und mich beruhigte.

Wie sah jener hehre Ort der Aufklärung eigentlich aus? Die Erst- und Zweitklässler saßen zusammen in einem einzigen Raum, ungefähr sechs bis sieben Schüler pro Jahrgang. Es gab nur eine Lehrerin und die hatte den klassischen Namen Maria Iwanowna. Sie gab diesen wie jenen nacheinander ihre Aufgabe, während ich abseits saß und es schaffte, beide zu lösen.

Was soll man bloß mit einem Menschen machen, der lesen, schreiben und rechnen kann? Mich nach dem zweiten Halbjahr offiziell einzuschulen, war anscheinend nicht möglich, aber da Mursicha versinken sollte, entschied man: Wir geben dem Klugscheißer eine Bescheinigung über den Abschluss der ersten Klasse – die ganze Wahrheit kennt nur das Wasser.

Das alles ist nicht normal. Erst wurde ich illegitim geboren, dann illegitim gebildet.

 

 

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