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Lyrik [deutsch - russisch]

Karl Marx und Tante Sara

Es gibt kein Volk, in dessen Namen ich irgendeine Erklärung abgeben könnte, noch nicht mal zum Wetter. Man nehme das russische Volk, mehr als 140 Millionen, das sind doch zu viele. Wo gäbe es denn ein Volk? Väterlicherseits bin ich Jude, mütterlicherseits Russe, im Ganzen weder das eine noch das andere. Die eine Seite zählt mich nicht zu den ihren, die andere auch nicht. Für die Juden bin ich nicht genug jüdisch, für die Russen nicht genug russisch. Man kann noch andere finden, die weder Fisch noch Fleisch sind. Wenn man sich umschaut, sind es gar nicht so wenige, und die Leute sind wohl in Ordnung. Auch in der Vergangenheit gab es einige sehr anständige Halbblüter: Wladimir Wyssozkij, Wassili Aksjonow, Andrej Mironow … Und, soll ich mir etwas darauf einbilden, dass ich eben zu diese Gruppe passe? Ich sehe hier keinerlei Meriten.

Ich bemerke nur, dass unter Menschen mit gemischter Nationalität die Nationalisten selten sind. Ich mag keine Nationalisten, egal um wen es sich handelt, ob russische, jüdische, tatarische … Es ist sinnlos, mit ihnen zu streiten, überzeugen kann man sie nicht. Irgendein Jude, der sich gerade noch an seine Multiplikationstabelle erinnert, ist wahnsinnig stolz darauf, aus demselben Stamm wie Einstein zu kommen. Als hätte er an Verdienst und Ruhm des weltbekannten Gelehrten einen Anteil. Und manchmal stellt er sich selbst oder seine Sippe auf eine noch höhere Stufe. Wie in dem Witz, in dem der Junge seinen Vater fragt, wer Karl Marx sei. Der Vater antwortet, dass Marx ein Ökonom war. „Wie Tante Sara?“, will der Junge genau wissen. „Aber nein“, klärt der Vater würdevoll den Sprössling auf, „unsere Tante Sara ist doch Chefökonom!“

Wenn irgendein Nationalist mich mit seinen Überlegungen darüber nervt, dass seine Nation viel höher stünde als der Rest, und die Menschen manch anderer Nationalitäten* eigentlich nur Störenfriede sind, konstruiere ich für ihn aufschlussreiche Lebenssituationen. „Stell dir vor“, sage ich zu ihm, „du selbst oder einer deiner Angehörigen liegt auf dem Operationstisch. Und es gibt zwei Chirurgen. Der eine ist ein ausgezeichneter Spezialist, gehört aber zu jener Nationalität, die du nicht magst. Der andere gehört derselben Nationalität an wie du selbst, ist aber unerfahren und macht Fehler. Nun wen von beiden würdest du vorziehen?“ Wenn das nicht reicht, führe ich ihm noch eine andere Situation vor Augen: Er setzt sich in ein Flugzeug, und es gibt zwei Piloten. Der eine hat wiederum die falsche Nationalität, ist aber ein richtiges Ass, der zweite am Cockpit hat die richtige nationale Zugehörigkeit, aber fliegt nicht besonders. Ich glaube, in beiden Fällen wird von dem Menschen, der vor die Wahl gestellt wird, der ganze nationale Wahn im Nu abfallen, und er wird selbstverständlich den guten Chirurgen und den guten Piloten nehmen. Und irgendwie ihre schreckliche „Nationalität“ aushalten.

In meinem Freundeskreis legt man zu nationalen Problemen meist eine fröhliche Haltung an den Tag. Einmal kam es vor, dass mein Freund Gera Rabinowitsch Geburtstag feierte. Überhaupt kommt es ziemlich oft vor, dass er Geburtstag hat, mir scheint sogar häufiger als andere Leute. Ich schaffe es kaum, ihm Glückwunschkarten zu schreiben und mir witzige Geschenke auszudenken. Gera, den ich hier aus Gründen der Seriosität als Georgij Semjonowitsch und Oberst im Ruhestand einführen möchte, ist wie ich selbst Halbjude und Halbrusse. Bevor ich mich also zu seinem Geburtstag aufmachte, kaufte ich eine Torte mit der verzierenden Aufschrift „Der weise Jude“. Unsere tatarischen Mitbürger haben sich diese originelle Torte ausgedacht, die sie in der tatarischen Lebensmittelkette „Bachetlé“ verkaufen. Ich erwarb dieses Konditorprodukt und kam zu dem vernünftigen Urteil, dass ein ganzer „Weiser Jude“ für einen halben Rabinowitsch doch zuviel ist. So schnitt ich sie auseinander, die eine Hälfte behielt ich für mich (was nur gerecht ist), und mit der besseren Hälfte (in diesem Fall nicht die Frau, sondern die Torte) ging ich zum Geburtstag. Kaum einer hat vermutlich jemals einem Geburtstagskind eine halbe Torte geschenkt. Manch einer würde sich wahrscheinlich dadurch gekränkt fühlen. Aber Gera war begeistert. Er hat einen bemerkenswerten Sinn für Humor: Den Familiennamen Rabinowitsch** erhält nicht jeder X-beliebige bei seiner Geburt.

Dieses Thema ist unerschöpflich, um aber einen vorläufigen Schlussstrich zu ziehen, möchte ich zwei Aufzeichnungen aus meinem Notizblock zitieren. Unter dem Eindruck eingehender Beschäftigung mit „nationalen“ Beziehungen notierte ich:

„Alle Menschen sind Brüder. Mit Ausnahme derer, die Schwestern sind.“

„Niemand lehnt es ab, Wodka zu trinken, weil dieser russisch ist, oder Cognac zu trinken, weil jener armenisch ist.“

 

 

Anmerkung der Übersetzerin

* Im russischen/sowjetischen Kontext werden und wurden – unabhängig von ihrer genuinen russischen /sowjetischen Staatsbürgerschaft – Ethnien als „Nationalitäten“ bezeichnet. Dieser Terminus, zum Teil in Anführungszeichen gesetzt, wurde auch in der deutschen Übersetzung beibehalten, um historisch diskreditierte Begriffe wie „Volkszugehörigkeit“ etc. zu vermeiden.

 

** Der tiefsinnigere Humor ist hier im Deutschen nicht wiederzugeben. Der Name Rabinowitsch taucht im russischen Witz als Klischeename für den Juden auf, vergleichbar mit „Klein-Erna“ und ähnliche Figuren im deutschen Witz.

 

 

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