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Vladimir Nabokov

Briefe der Geschwister Vladimir Nabokov/Jelena Sikorskaja nach Kriegsende 1945

Jelena Sikorskaja (1906-2000), geb. Nabokova, verließ 1919 – wie meisten Mitglieder der Familie Nabokov – das bolschewistische Rußland und ging ins Exil. 1923-1947 lebte sie in Prag, neben Berlin und Paris ein weiteres wichtiges Zentrum der russischen Emigrationswelle. Sie studierte an der Karlsuniversität und arbeitete später als Bibliothekarin an der dortigen Universitätsbibliothek. 1947 reiste sie in die Schweiz aus und arbeitete dank der Vermittlung ihres Bruders Vladimir Nabokov in der Bibliothek der Vereinten Nationen in Genf. 1980 gab sie in dem kleinen amerikanischen Verlag Ardis, Ann Arbor, den russischen Briefwechsel mit ihrem berühmten Bruder heraus, der unmittelbar nach dem Zweiten Krieg wiedereinsetzte. Vier Briefe aus dem Jahr 1945, die ersten Lebenszeichen nach der langen Kriegszeit, in der sich die Geschwister aus den Augen verloren und in Ungewissheit über das Schicksal des anderen lebten, sollen hier erstmals in deutscher Übersetzung aus der Korrespondenz vorgestellt werden. Sie sind gleichermaßen wertvolle zeitgeschichtliche wie biographische Dokumente, die ihrer Entdeckung noch harren.

 

 

Der erste Brief von Jelena Sikorskaja an Vladimir Nabokov nach dem Krieg

1. Oktober 1945

 

Mein Liebling,

 

ich hab deinen Brief an E.K. noch nicht gelesen. Ich habe eben erst am Telefon erfahren, dass sie ihn bekommen hat und kann es nicht abwarten und schreibe dir. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, dass ihr alle wohlauf seid, dass Kyrill am Leben ist. Armer Serjoscha! Er könnte jetzt in Prag sein. Eine Woche vor seiner Verhaftung bekam er eine Einladung hierher, um Englisch zu unterrichten. Er hat es nicht rechtzeitig geschafft, zu fahren. Ich kann nichts über ihn in Erfahrung bringen, obwohl ich überall um Informationen nachgesucht habe.

 

Mein Lieber, ich weiß nicht, womit ich meinen Brief beginnen soll. Ich beginne chronologisch. Du weißt, dass am 22. April 1939 unser Junge geboren wurde. Zuhause nennen wir ihn Schikotschka […]. In den ersten Tagen war er Serjoscha unheimlich ähnlich, jetzt ist es insgesamt schwer zu sagen, mit wem er Ähnlichkeit hat. Ich möchte Dir ein Foto schicken. Ich weiß nicht, ob es geht.

 

Ich arbeitete weiterhin in der Bibliothek, mein Mann fuhr Taxi, und zu uns kam eine sehr nette russische Dame, die nach dem Kleinen sah. Von Ende 1939 an gab es Rationierungskarten, aber es war immer noch erträglich. Im Sommer 1939 fuhren wir auf die Datscha, es war schwierig mit Windeln usw. Alles ging seinen Gang. Der Kleine wuchs, seine ersten Worte waren „pugowka“ [Knöpfchen] und „kukolka“ [Püppchen]. Das Essen war knapp, aber hungern mußten wir nicht. Fett, Früchte, Süßes in ausreichendem Maße lernte der Kleine tatsächlich nicht kennen, an Fleisch ißt er nur Pferdefleisch. Im Mai wurde mein Mann als Taxifahrer entlassen, und er ging in eine Fabrik. Zur gleichen Zeit wurde die Dame, die nach Schikotschka gesehen hatte, krank, und wir mußten eine andere, äußerst unsympathische nehmen, aber dennoch sind wir in diesem Jahr alle auf die Datscha gefahren. Wir waren in Radošovice (erinnerst du dich, du warst mit Vera dort). Im folgenden Jahr, 1943, wurde mein Mann wegen eines Magengeschwürs, das man bei ihm entdeckt hat, arbeitsunfähig geschrieben. Da entschloß er sich, mit dem Kleinen zu Hause zu bleiben und Russischunterricht zu geben, was er bis jetzt tut. Ich bin seit dem 14. Mai dieses Jahres ins Außenministerium versetzt worden, ohne mein Zutun, aber sie brauchten einfach eine Übersetzerin für Russisch.

 

Wir haben einen furchtbaren Bombenangriff erlebt, der unser Stadtviertel, Pankrác, besonders verwüstet hat, alles stürzte zusammen in Schutt und Asche, das war ziemlich unangenehm. * Der Aufstand am 5. Mai dieses Jahres machte sich auch bei uns am meisten bemerkbar. Wir durchlebten grauenhafte Tage. Ich erinnere mich bis heute immer an den lieben Cincinnatus. Ich sah die Bäcker, die mit französischem Weißbrot jonglieren, und die Rosen in Gläsern beim Empfang im Rathaus. Allerallerliebster Cincinnatus! Aber ich werde jetzt nur die Fakten berichten. Nach dem Aufstand kehrte ich in die Bibliothek zurück, war aber nur zwei Tage dort, dann holte man mich hierher ins Ministerium, und hier sitze ich. Ich langweile mich schrecklich ohne die Bücher und Freunde aus der Bibliothek, aber anfangs war es hier besser. Dort klebte sich der Aufpasser einen roten Bart an und tanzte mit Cincinnatus. Jetzt aber, nachdem sich alles mehr oder minder normalisiert hat, bin ich sehr traurig, dass ich mich nicht mehr mit den Sachen beschäftigen kann, mit denen ich mich 15 Jahre beschäftigt habe. Aber ich unternehme nichts und vertraue in allem dem Schicksal. Hier hingegen, gehen die Leute die ganze Zeit in verschiedene Botschaften um auszureisen, und in Gedanken reise ich mit jedem von ihnen fort, quäle mich, daß ich in kein neues Land gelangen kann. Hol mich und die meinen zu dir, ich werde in einer Bibliothek anfangen und werde ohne Unterlaß arbeiten. Ich werde euch, so gut ich kann, beim Haushalt helfen und bei allem, was anfällt. Sollten wir wirklich niemals mehr zusammen leben können? Vergegenwärtige dir, wir sind doch schon alt. Im kommenden Jahr werde ich vierzig, und du bist in diesem Jahr sechsundvierzig geworden. Ich bin es leid, getrennt von dir zu leben und von allem, was ich liebe und wohin es mich beständig zieht. Wie würden, du und ich, über Bücher sprechen, über Gedichte, über alles, alles. Hab ich doch, als ich „Die Gabe“ las, dies auch zum Teil auf mich bezogen: „O schwöre, dass du an erfundene Geschichten (Märchen) glaubst.“ Ich habe immer an sie geglaubt, immer… Der Gedanke fällt mir entsetzlich schwer, daß ich irgendwann einmal alles, was Du geschrieben hattest, kannte, mir jede Zeile vertraut war, und nun stehe ich vor einem Abgrund von sieben Jahren, und ich habe Angst, daß du vielleicht anders als ich fühle und Du nicht über ihn drüber schreiten und mir alles erzählen kannst, was in diesen Jahren war. Ich weiß nicht, bist Du überhaupt glücklich? Mehr als je zuvor denke ich daran, daß du recht hattest: „Sollte man sich nicht überhaupt vom Vaterland lossagen, weil mein Vaterland nicht jenes ist“ (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, aus „Die Gabe“, natürlich falsch, aber du erinnerst dich an die Stelle). **

 

Ich bekam von E.K. Papas Tagebücher und Briefe aus dem Gefängnis. O lieber Himmel, wie war mir traurig zumute. Stell dir vor, er hat im Gefängnis an Mama über dich geschrieben: „Sag Laudy, daß ich im Gefängnishof einen Kohlweißling gesehen habe“. All das ist für immer vorbei, aber besonders in der letzten Zeit denke ich aus irgendeinem Grund an ihn, daran, was er mir sagen würde und wie er wohl an meiner Stelle handeln würde. Und ich kann manchmal das Gefühl nicht loswerden, daß ich mich in einer besonderen Welt aufhalte, ich fühle mich historisch alt und weise und erinnere mich immer wieder an alles.

 

Und zwischenzeitlich bin ich völlig glücklich. Ich liebe Schikotschka wahnsinnig. So daß es für mich letzten Endes kein anderes Leben gibt außer dem Leben in seiner kleinen Welt. […] Er ist so zärtlich zu mir, küßt mir meine Hände und sagt „Meine kleine Sonne“ oder „Mamusenka“ oder „mein kleines, dickes Äpfelchen“ zu mir.

 

Ich erzähle ihm ständig ein und dasselbe Märchen über Baba Jaga und ihren Zwist mit den sieben Zwergen. Ein anderes Märchen möchte er überhaupt nicht hören. Ich muß mir immer wieder neue Vorfälle zwischen „meiner lieben Alten“, wie er sie nennt, und den Zwergen ausdenken. Er mag Tiere furchtbar gern, träumt von einem Hund. Im Moment entwickelt sich langsam sein Gehör. Nächstes Jahr wird er anfangen, Klavier zu lernen. Im Moment geht er in eine tschechische Schule, da die russische vor einem Monat geschlossen wurde.

 

Uns steht ein schwieriger Winter bevor. Es gibt keine Kohlen, keine Lebensmittel, wir leben immer noch von Lebensmittelkarten, es gibt keine Milch, keine Früchte, kein Grünzeug. Mit Kleidern ist es schrecklich. Man muß sich immer wieder neue Kombinationen einfallen lassen, um seine Blöße zu bedecken. Sehr viele unserer Bekannten fuhren diesen Sommer auf die Datscha, aber viele kehrten zurück. Cincinnatus ist selbstverständlich auf der Datscha geblieben. Uns hat man nicht vorgeschlagen, zu fahren. Man hat uns einfach vergessen. Jetzt ist es natürlich zu spät, und so wie es aussieht, sagt man, gibt es auch keine Datschen mehr. Das heißt unser Leben verläuft normal, mein Mann gibt Russischstunden im Rahmen von allen möglichen Kursen, ich gehe von 8 bis 3 Uhr zum Dienst, übersetze alle möglichen diplomatischen Noten und Akten.

 

Olga ist immer noch die gleiche. E.K. gibt Unterricht. Rostik spielt sehr gut Klavier. Kyrill haben wir letztes Jahr gesehen. Er ist ganz der alte… Und sieht aus wie ein achtzehnjähriger Junge. Ich flehe dich an, schick Fotos. Schreib ausführlich über Mitenka, wie er ist, was er gern hat, wie er sich benimmt, ob er auf Dich und Vera hört. Jede Kleinigkeit ist für mich interessant. Ich verspreche Dir, jede Woche zu schreiben, unter allen Umständen, wie E.K. sagt.

 

Verzeih mir diesen wirren Brief. Ich weiß nicht, wo anfangen, wo aufhören. Schreib mir über alles, was du in diesen Jahren geschrieben hast, schick mir, was Du kannst. Wenigstens irgendeinen Vers. Wenn du mal sehr reich bist, schickst Du mir Geld für die Reise, ich nehme Urlaub und komme mit Schikotschka zu dir. Von einem solchen Glück kann man nur träumen…

 

Schreib mir: Was liest du? Welche Autoren magst du? Ich lese im Moment Katherine Mansfield, die wunderbare. Vielleicht ist das schon ein veralteter Geschmack. Ich weiß nicht. Lach nicht.

 

Mein Liebling, ich bin so glücklich, daß es dich gibt, daß ich dir schreiben kann. Draußen ist es Herbst, ich schreibe dir von meinem Zimmer im Ministerium, weil heute nicht viel zu tun ist. Denkst du manchmal an mich?

Was macht Vera? Wie geht es ihr? Sag ihr, daß ich häufig daran denke, wie ich sie zusammen mit dem kleinen Mitenka zur Pension gebracht habe. Ich werde ihr auch bald selbst schreiben.

 

Schreib mir, schreib mir, bitte.

 

Ich umarme dich, mein Lieber, mein lieber Bruder. Deine E.

 

P.S. Stell dir vor! In der Bibliothek habe ich dein erstes Büchlein mit Gedichten gefunden, „Gedichte von V. Nabokov. 1916“. Wenn du möchtest, schreibe ich sie dir irgendwann ab. Sie sind zauberhaft!

 

Ich habe gerade deinen Brief gelesen. Ich fand es betrüblich, daß du so wenig schreibst. Worüber gehen deine Vorlesungen? Schreib, um Himmels willen, einen langen Brief. Schreib nur recht bald und schick Fotos, wenn möglich. Vor allem von Mitenka. Denn ihn habe ich gesehen, als er drei Jahre alt war!

 

 

Jelena Sikorskaja an Vladimir Nabokov

9. Oktober 1945

 

Mein Lieber,

 

ich schreibe dir erneut und nutze die Gelegenheit, daß ein Kurier von uns aus nach London fährt und dich dadurch der Brief schneller erreicht. Hast du schon meinen Brief vom 1. Oktober bekommen? Ich hab dir ein Foto geschickt. Ich hoffe, es ist nicht verloren gegangen.

 

Während des Krieges haben wir verhältnismäßig ruhig hier gelebt. Am schlimmsten war natürlich der Luftangriff vom 14. Februar dieses Jahres. Ich war an diesem Tag zufällig zu Hause, ging nicht zum Dienst. Bei Schikotschka hatten sich fünf kleine Mädchen getroffen, die Lehrerin gab ihnen Unterricht, da die Schule aus Mangel an Kohlen geschlossen war. Ich hab im Badezimmer die Wäsche gewaschen. Als die Sirene losging, schenkten wir dem erst keine besondere Beachtung, denn die Sirenen heulten jeden Tag. Aber dann beschlossen wir doch, die Kinder in den Keller zu bringen. In dem Moment, als sich alle schon im Flur drängten, krachte über uns alles zusammen (so kam es mir vor), die Kinder schrien los, die Lehrerin und ich begannen sie die Treppe hinunter zu zerren, mein Mann stürzte aus dem Zimmer, und versuchte uns irgendwie zu schützen, insgesamt verloren wir nicht die Nerven, aber als wir alle im Keller waren- hörte es auf. Als wir später nach draußen gingen, war alles voller Scherben, viele Häuser waren ganz zusammengestürzt, Menschen rannten mit wahnsinnigen Gesichtеrn, aber ich muß sagen, ich hatte weniger Angst, als ich dachte. Lange saßen wir ohne Wasser, Strom und Gas. Auf den Kleinen wirkte sich die Dunkelheit am schlimmsten aus.

 

Das zweite heftige Erlebnis hatte ich während des Aufstands. Am Morgen des 5. Mai fuhr ich zur Bibliothek. Zu dieser Zeit waren ich und eine meiner Freundinnen damit beschäftigt, alle noch verbliebene Deutsche abzufahren und bei ihnen die ausgeliehenen Bücher einzusammeln. Auf den Straßen war es noch ruhig, es wurden zwar deutsche Schilder abgenommen, aber die deutschen Soldaten kümmerte das nicht. Meine Freundin und ich begaben uns zu einer bestimmten Adresse, um Bücher abzuholen. Wir kamen zu einem deutschen Flieger, der uns noch ziemlich ruhig die Bücher zurückgab. Als wir aus dem Haus kamen, stand auf der Straße ein Lastwagen, auf dem ziemlich offensichtlich Hammer und Sichel aufgemalt waren. Auf der Stelle rannten wir zur Bibliothek zurück und dann um zwölf Uhr, so schnell wir nur konnten, nach Hause. Zur Hauptstraße ließ man schon niemanden mehr durch, überall standen Deutsche mit Maschinengewehren. Aber ich habe es glücklich nach Hause geschafft. Es war Ostersamstag. Ich kam zurück, wischte die Fußböden zum Feiertag, machte für Schikotschka eine Pas‘cha aus Quark [pyramidenförmiger Osterkuchen], den ich gegen Papirossen eingetauscht hatte, buk einen kleinen Kulitsch [rundes Osterbrot aus süßem Hefeteig] und färbte vier Eier. Um zwei Uhr nachmittags begann das Radio, Aufrufe um Hilfe zu senden. Der tschechische Aufstand hatte begonnen. Gleichzeitig hörte man Maschinengewehre und schwere Geschütze knattern. Mit Kuchen und Brot und Schikotschka auf dem Arm ging ich in den Keller. Ich muß hinzufügen, daß wir in einem sehr üblen Stadtteil wohnen in der Nähe des Hauptgefängnisses. Um das Gefängnis herum fanden die schlimmsten Kämpfe statt. Wir saßen bis mittwochs im Keller. Wir schliefen auch dort. Mein Mann lief nach oben, und wärmte das Essen, während überall die Granaten explodierten. Einmal ging auch ich hoch. In der Küche war das Fenster offen, es war ein wunderschöner Maitag, im Hof blühte bezaubernd ein Fliederbusch. Du fielst mir ein. Es krachten die Waffen. Die Deutschen schossen aus den Fenstern. Man muß sagen, daß wir dem sichern Untergang entkamen. Eine Straßenbahnstation weiter von uns zerrten die Deutschen die Bewohner aus den Kellern, töteten sie oder brachten sie außerhalb der Stadt und zündeten die Häuser an. Mittwochs marschierte die Rote Armee ein. Cincinnatus blieb im Gefängnis. Jetzt weißt du, mein liebster Bruder, wie es uns erging.

 

Was das andere angeht, so lebten wir natürlich sehr schlecht. Denn in den sechs Jahren haben wir ständig gehungert, oder besser gesagt wir haben nicht genug zu essen gehabt. Aufgrund meines unerschütterlichen Optimismus habe ich damit gerechnet, daß ich an dem Tag, an dem der Krieg zu Ende ist, mich in die Läden stürzen und Butter, Milch, Brot und Fleisch kaufen würde, aber daraus wurde nichts. Bislang ist alles beim alten. Es kommt der Winter, Kohlen haben wir keine, obwohl es bei uns eine Zentralheizung gibt, haben wir kaum Hoffnung, daß sie funktionieren wird. Im letzten Jahr war Schikotschka verpackt wie ein kleines Eskimokind, und wir wohnten alle in der Küche, wo man den Herd heizen kann. Jetzt sind wir dabei, wieder nach dort umzuziehen. Ich bin nicht wegen mir bekümmert, mir macht alles nichts aus, aber Schikotschka ist sehr mager, obwohl er immerhin gesund ist. Im Außenministerium bin ich dank eines Dichters und Schriftstellers, der zukünftig Botschafter in Dänemark wird. Er arbeitete unter den Deutschen auch in der Bibliothek, das Ministerium existierte nicht. Ich habe nichts unternommen, um hierher zu kommen, in den Tagen des Aufstands ließ er mich holen, und ich konnte aus verschiedenen Gründen nicht ablehnen. Hier herrscht eine ruhige und vernünftige Atmosphäre. Für Cincinnatus wäre es gut, hier Dienst zu tun. In der Bibliothek hat man ihm, dem Armen, sehr zugesetzt.

 

Ich möchte dir noch Einzelheiten über Serjoscha schreiben. Er arbeitete in einer halbrussischen Einrichtung und hat aus seiner Meinung keinen Hehl gemacht. Man hat ihn denunziert und am 15. Dezember 1943 kam er ins Konzentrationslager. Ich, E.K. und Onetschka versuchten, ihm alles zu schicken, was möglich war, aber wir hatten selbst nichts. Im März dieses Jahres schrieb mir Onetschka, ihr sei gelungen, herauszufinden, daß unser armer Serjoscha am 10. Januar 1945 im Gefängnis in Hamburg (Neuengamme) gestorben ist. Man schrieb ihr, daß er an einer Magenkrankheit gestorben und im Krematorium verbrannt worden sei. Näheres war nicht in Erfahrung zu bringen. Ich versuche überall an Informationen zu gelangen, aber es ist nichts in Erfahrung zu bringen. Als er hier war, kam er mir wie nicht von dieser Welt vor, als läge der Schatten seines tragischen Endes schon auf ihm.

 

Mein Liebling, das letzte, was ich gelesen habe, ist „Die Gabe“. Das ist so gut, aber was mich am meisten erschüttert hat – ist die Beschreibung des Traums. Erschüttert, weil ich 23 Jahre lang genauso von ihm geträumt habe. Stets das Geheimnis, stets die geheimnisvolle Reise und Rückkehr. Ich kann nicht glauben, daß es eine solche Koinzidenz gibt.

Ich küße dich, Mitenka und Vera zärtlich. Sag Mitenka, daß sein kleiner Cousin sich nach ihm sehnt, nach Indianern, Bananen und kleinen Affen.

 

 

Vladimir Nabokov an seine Schwester Jelena Sikorskaja

25. Oktober 1945

 

8, Craigie Circle, Cambridge, Mass.

 

Meine liebe Jelenotschka,

 

ich habe das allerliebste Foto und Deinen Brief erhalten – er hat mir eine schmerzliche Freude bereitet. Es ist sehr schwierig, eine solche große Unterbrechung zu füllen und auszukleiden – und quälend ist der Gedanke, daß es mir, in diesem Land, in dem man satt an der mollig warmen Heizung sitzt, so viel besser ergangen ist als euch - , aber ich kann Dir direkt sagen, daß ich mich, genau wie Du, ebenfalls wenig verändert habe. Der „Kohlweißling“, von dem Du schreibst, ist die ganze Zeit auf der Ärmelmanschette sitzen geblieben, und jetzt sehe ich, wenn ich vom Bett auf die Regale blicke, immer noch das, was ich immer gesehen habe, - das Londoner Schachbrett, die Bände von Dal, entomologische Zeitschriften, den zerfledderten Puschkin. Ich bin kahler und dicker geworden und habe mir schöne falsche Zähne zugelegt, doch im Innern ist da immer noch die pfeilgerade Allee. Das Beste, was ich an Versen geschrieben habe (sowohl russisch wie englisch), habe ich hier geschrieben. In Prosa – auf Englisch – habe ich einen Roman herausgebracht, ein Bändchen mit Übersetzungen (aus Tjutschew usw.) und ein Buch „Gogol“. Ich habe einige Erzählungen in den besten amerikanischen Zeitschriften platziert. Jetzt durchpflüge ich gerade ein sehr großes und ziemlich ungeheuerliches Ding. Vier Tage in der Woche (schon im vierten Jahr) verbringe ich in meinem wundersamen entomologischen Labor hinter dem Mikroskop und untersuche die allerzartesten Organe. Ich habe einige Schmetterlingsarten beschrieben, von denen ich einen selbst gefangen habe, in einer märchenhaften Schlucht in den Bergen Arizonas. In gewisser Weise verwirklichten sich hier (ein ganz klein wenig schräg, aber mit seltener Klarheit) meine uralten Träume aus der „Gabe“.

 

Dein Kleiner ist bezaubernd. Meiner ist es auch. Mein Familienleben ist völlig ungetrübt. Ich liebe dieses Land. Ich möchte euch unbedingt hierher herüberholen. Neben Abstürzen in die absurdesten Niedrigkeiten gibt es hier auch Höhen, in denen man schöne Picknicks mit „eingeweihten“ Freunden veranstalten kann. Ich möchte Dich schrecklich gerne sehen, meine Liebe, - ich male mir ein Wiedersehen so plastisch aus. Ich habe Deinen Brief genossen, und immer dachte ich, daß wir beide die letzten Hüter, die letzten zwei Gefäße einer gemeinsamen Vergangenheit sind.

 

Die Nachricht von Sergej hat mich besonders erschüttert, da sein Schicksal nicht die geringsten Befürchtungen aufkommen ließ. Wenn sich mein Haß auf die Deutschen noch steigern ließe (doch er hat schon die Grenze erreicht), dann würde er noch größer werden. Nika läßt sich bereits von seiner zweiten Frau (einer Amerikanerin) scheiden.

Ich küße Dich fest, grüße Deinen Mann, bald schreibe ich Dir wieder, bleib gesund und schreibe.

 

V.

 

 

Vladimir Nabokov an Jelena Sikorskaja

26. November 1945

 

Meine liebe Jelenotschka,

 

wir haben von Dir drei Briefe bekommen, einen mit Stempel (vom 15. Oktober), den letzten durch die gebotene Gelegenheit, und nun den vom 8. November. Danke, meine Liebe. Schreib mir mehr und öfter, deine wunderschönen Briefe sind für mich eine enorme Freude. Ich fange erst gar nicht davon an, was mir die Fotos bedeuten.

 

Du hast mich gebeten, Dir meinen Tagesablauf zu beschreiben. Ich wache um 8 oder um diese Zeit von alleine auf, immer von einem und demselben Geräusch: Mitenka geht ins Badezimmer.

 

Er hat eine Neigung zum Sinnieren und Trödeln, so daß immer die Gefahr besteht, daß er zu spät zur Schule kommt. Um 8.40 Uhr holt ihn der Schulbus von der Ecke ab. Vera und ich schauen aus dem Fenster (mit X gekennzeichnet) und sehen, wie er zur Ecke marschiert, sehr ansehnlich, in einem grauen Anzug, in einer rotfarbenen Hockeymütze, den grünen Beutel (für die Bücher) über die Schulter geworfen. Ungefähr um halb zehn mach ich mich auch auf den Weg, mein Lunch (eine kleine Flasche Milch, zwei belegte Brote) habe ich dabei. Bis zum Museum ist es zu Fuß ungefähr eine viertel Stunde, durch stille Straßen (wir leben in einem Vorort, im Universitätsviertel von Harvard), dann am Tennisplatz der Universität vorbei, viele Plätze sind während des Kriegs völlig zugewachsen, als niemand da war, der sich um sie und das meterhohe Gras hätte kümmern können. Mein Museum ist das in Amerika (und im früheren Europa) berühmte Museum of Comparative Zoology an der Harvard University, der ich angehöre. Mein Labor nimmt die Hälfte der vierten Etage ein. Großteils ist es durch Schränke mit herausziehbaren Schmetterlingskästen vollgestellt. Ich bin der Kurator dieser absolut märchenhaften Sammlungen, wir haben Schmetterlinge aus der ganzen Welt. Die meisten von ihnen sind Typenexemplare (d.h. genau jene Exemplare, anhand derer die Beschreibungen angefertigt wurden, von den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an bis heute). Entlang der Fenster erstrecken sich Tische mit meinen Mikroskopen, mit Reagenzgläsern, Säuren, Papieren, Nadeln etc. Ich habe eine Assistentin, deren Hauptaufgabe darin besteht, das von Sammlern eingeschickte Material aufzubereiten. Ich beschäftige mich mit eigenen Studien und veröffentliche schon das dritte Jahr Teile einer Arbeit zur Klassifizierung von amerikanischen „Bläulingen“, die auf dem Bau der Genitalien basiert (nur unter dem Mikroskop sichtbare winzige skulpturhafte Häkchen, Zähnchen, Sporen usw.), die ich mit Hilfe von verschiedenen großartigen Apparaten, Varianten einer Laterna magica, zeichne. Bei gutem Wetter mache ich um die Mittagszeit eine kleine Pause, und dann strömen auf den Treppen die Hüter der Reptilien, Säugetiere, Fossilien zusammen – alles äußerst liebenswürdige Menschen. Meine Arbeit ist berauschend, aber am Ende ermüdet sie mich, ich habe mir die Augen verdorben, trage eine Hornbrille. Zu wissen, daß das Organ, das du betrachtest, vor dir noch nie jemand gesehen hat, Zusammenhängen nachzugehen, die niemandem vor dir in den Sinn kamen, sich in die wundersame Kristallwelt des Mikroskops zu versenken, wo eine Stille herrscht, die durch den eigenen Horizont begrenzt ist, eine blendend weiße Arena – das alles ist so hinreißend, daß ich es nicht beschreiben kann (in gewisser Weise habe ich in „Die Gabe“ mein Schicksal „vorhergesagt“, diese vollkommene Hinwendung zur Entomologie). Etwa um fünf gehe ich wieder nach Hause (schon in der bläulichen Winterdunkelheit, in der Stunde der Abendzeitungen, in der Stunde, in der man nach Hause kommt, und die Radios in den beleuchteten Wohnungen der großen, efeubewachsenen Häuser zu spielen beginnen). Mitenka kommt etwa um dieselbe Zeit von der Schule. Er breitet auf dem Tisch das aus, was er die „ leicht säuerlichen Papiere“ nennt – Zettel mit zufälligen Zeichnungen und nicht zufälligen Benotungen. Er lernt ausgezeichnet, doch das ist Vera zu verdanken, die mit ihm jede Stunde ausführlich durchgeht, die Aufgaben in Latein, Mathematik usw., seine ausgesprochene Begabtheit schließt auch eine Portion Faulenzerei ein, und er kann alles rundherum vergessen und sich in Zeitschriften für Flugzeuge vertiefen, Flugzeuge sind für ihn das, was für mich die Schmetterlinge bedeuten. Er bestimmt einwandfrei an der entfernten Silhouette im Himmel, ja beinahe am Dröhnen, den Typus der Maschinen, mit großer Begeisterung baut und klebt er Modellflugzeuge zusammen. Während unserer Reisen in den Rocky Mountains, in Utah, begleitete er mich bei der Jagd, aber eine richtige Leidenschaft für Schmetterlinge hat er nicht. Seine Buchstaben sind verziert wie bei mir und Vera, und wie sie bei Mama waren, aber jeder besitzt seine eigene Farbe, bei mir ist z.B. das „M“ rosig, flanellartig, und bei ihm hellblau, usw. Er ist ungewöhnlich musikalisch, hat Musikunterricht und singt wunderschön. Er ist ehrgeizig, aufbrausend, streitsüchtig und prahlt mit amerikanischen Wörtern (manchmal ziemlicher Slang), die er von den einheimischen Schulkindern hat, aber unter ihnen ist er wie ein weiß-silbriger Rabe, unendlich zärtlich, und überhaupt ein allerliebstes Herzchen. Ich finde es besonders rührend, daß er uns wirklich alles erzählt, mit einer naiven Wahrheitstreue. Nach einem frühen Abendessen lege ich mich zum Ausruhen hin, mit einem Buch oder einer unfertigen Arbeit (aus dem Museum); um neun wird es laut – das Streichen über eine Harfe hinter der Wand, das ist der kleine Mitenka, der auf den Stäben am Kopfende seines Bettes spielt und mich zum Gutnachtsagen ruft. Hierbei kann er besonders lieb sein.

 

Zweimal in der Woche verlasse ich ganztägig die Stadt und fahre zum Wellsley College für Mädchen, wo ich Seminare halte (vier Stunden hintereinander). Das ermüdet mich mehr als das Museum. So bleiben für die Literatur nur der Samstag und Sonntag. Ich schicke dir unbedingt das, was ich in diesen Jahren geschrieben habe, aber es gibt ein bestimmtes „aber“: Laß uns gewisse Dinge berücksichtigen, ich muß mit meiner Hand sehr vorsichtig sein, ja und deine Gesundheit macht mir Sorgen. Was du über dein Kind schreibst, ist zauberhaft, besonders schön ist sein Tierspielen. Es ist ein solches Glück, daß ihr wohlauf, am Leben und munter seid. Der arme arme Serjoscha!...

 

Wenn es gelänge, euch hierher zu schaffen, glaube ich, daß du nach einem Jahr des Leidens dich einrichten würdest. Deine Art Beruf, Diplom usw. hat hier großes Gewicht. Wie stellst du dir eine solche Übersiedlung vor? Du mit Mann und Kind oder noch Rostik und E.K., das heißt verbindest du das eine mit dem anderen oder kommt ihr zuerst und dann holen wir mit vereinten Kräften R. und E.K.? Ich habe den quälenden Wunsch, daß sie hier sind … Ich werde niemals vergessen, wie wir aus dem schwarzen Paris des Jahres 1940 entkamen, welche alptraumhaften Schwierigkeiten (wie aus der „Einladung“) man uns bereitete, wie wir mühselig das Geld für die Fahrkarte zusammensammelten, wie Mitenka am Tag der Abreise 40 Grad Fieber hatte, wir wickelten ihn ein und machten uns auf den Weg, begleitet von Iosif Vladimirovitsch (er ist danach gestorben) und Tante Nina (die letztes Jahr in Paris gestorben ist. Nik. Nik. wurde auf dem Rückweg von einer Beerdigung von einem Auto überfahren und starb). In New York holt uns Natascha ab, brachte uns bei sich unter, danach fuhren wir auf die Farm der Familie Karpowitsch in Vermont. Später lud mich eine Universität ein, Vorlesungen zu halten, angeregt dadurch, daß ich irgendwann Alice in Wonderland auf Russisch übersetzt hatte. Und danach holte man mich nach Kalifornien,  an die Stanford University und hier wurde es schon leichter. Hier schätzt man Verstand und Talent (und das hast du) außergewöhnlich hoch.

 

Heute war ich wieder Professor (dienstags), bin sehr müde, schreibe undeutlich, aber bald werde ich wieder schreiben. Jetzt ist es abends, Mitenka ist im Bett, Vera liest ihm vor („Die schreckliche Rache“ von Gogol). Hab ich dir geschrieben, daß ich ganz schön dick geworden bin, ich sehe jetzt aus wie Apuchtin.

 

Meine Liebe, ich umarme Dich, ich glaube, daß wir uns wiedersehen, ich grüße Deinen Mann.

 

Dein V.

 

 

* Jelena Sikorskaja bezieht sich hier auf den (wohl versehentlichen) Luftangriff der amerikanischen Air Force am 14. Februar 1945, bei dem durch massiven Bombenabwurf vor allem die Stadtteile Vyšehrad, Vinohrady und Pankrác getroffen wurden. Über 1.000 Menschen verloren ihr Leben und wertvolle historische Gebäude wie die 1896 vom Wiener Architekten Stiassny gebaute Synagoge in Vinohrady wurden zerstört.

 

** Die Stelle heißt wörtlich: „Sollte man sich nicht für immer von der Sehnsucht nach dem Vaterland lossagen, von jedem Vaterland, außer jenem, das mit mir ist, in mir, das wie silbriger Meeressand an meinen Fußsohlen klebt, das in den Augen lebt, im Blut, das dem Hintergrund jeder Lebenshoffnung Tiefe und Weite verleiht. [Anm. d. Übers.]

 

Übersetzungen ins Deutsche: © I. Baumgärtner

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