Mnemosina e.V. - Verein für europäische Erinnerungskultur

Lyrik [russisch - deutsch]

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Lyrik [deutsch - russisch]

Aus dem Zyklus Redeteil Часть речи (1975-76)

I

 

Aus dem Nirgends in Liebe, am zigsten Oktuar,

sehr verehrter, allerliebste, unwichtig schon, wen ich meine,

denn die Züge der Gesichter, offen gesagt,

sind nicht mehr erinnerlich, nicht euer, nicht der deine,

sondern niemands ergebener Freund grüßt aus jener Welt,

die auf den Schultern von Männern liegt, die Kühe weiden;

Dich habe ich geliebt, mehr als Engel und IHN selbst,

und bin daher nun ferner von dir als von beiden.

Auf dem Grund eines Tales, das – längst eingeschlafen –

bis zur Türklinke unter einer Schneedecke ruht,

in den Nächten mich windend auf dem Laken,

schüttle ich das Kissen auf mit brüllendem „Du“,

hinter den Meeren, – und der Horizont wie ein Riegel,

mit dem ganzen Körper schaffend deine Gestalt

wieder und wieder wie ein wahnsinniger Spiegel,

wie ein Echo, das nie mehr verhallt.

 

 

II

 

Der Norden zermürbt das Metall, Glas hat Bestand.

Er lehrt die Kehle den Satz „Öffne mir“.

Mich zog die Kälte groß und legte in die hohle Hand

die Feder, mich zu wärmen an ihr.

Frierend sehe ich hinter dem Meer

die Sonne versinken und sonst niemanden mehr.

Der Absatz rutscht aus auf dem Eis oder die Erde selbst

ist es, die sich unter dem Absatz wölbt.

In meiner Kehle, vertraut mit Redeschwall,

dem Lachen oder heißem Tee,

erwächst immer lauter ein Schneekristall,

verdunkelt sich – gleich der „Sedow“ – das Adieu.

 

 

III

 

Ich erkenne jenen Wind, unter den sich das Gras

wie beim Ansturm von Tartaren zu Boden warf.

Ich erkenne jenes Blatt, dort am Wegesrand

fallend wie ein Fürst, purpur sein Gewand.

Wie ein Pfeil schräg zerfließt, sich verbreiternd entlang

den Wangen der Holzhütte im fremden Land,

erkennt der Herbst im Fenster – wie Gänse am Flug –

am Gesicht diese Träne. Ich schlug

meine Augen auf, den Blick zur Decke gewandt:

Nicht das Lied von der Heerfahrt war’s, das erinnernd ich fand –,

ein kasachischer Name, der des Nachts auf der Zunge vibriert,

einem Losungswort gleich, das zur Horde mich führt.

 

 

IV

 

Eine Beobachtungsreihe. In der Ecke ist es warm.

Das Ding von Blicken spurbedeckt.

Das Wasser wie Glas diaphan.

Der Mensch schrecklicher als sein Skelett.

Winterabend mit Wein im Nirgendwo.

Die Veranda unter dem Ansturm der Weide.

Der Körper ruht auf dem Ellbogen so,

wie eine Moräne jenseits des Eises.

In tausend Jahren macht man einen Fund,

holt eine Molluske hinter dem Vorhang hervor

mit durch die Franse abgedrucktem Mund,

„Gute Nacht“ flüsternd an niemandes Ohr.

 

 

V

 

Es ist Winter, weil der Absatz eine Fährte legt.

So erkennen die Häuser, die in Holzsachen frieren,

an jenem sich wieder, der vorübergeht.

Wozu in der Nacht über die Zukunft sinnieren,

wenn Erinnerungen wie aus Stille geschürft,

an die Wärme deiner –– im Ermatten,

der Körper von der Seele wirft

an die Wand – wie des Stuhles Schatten

an die Wand in der Nacht die Kerze.

Unter’m Himmel, waldabwärts wie eine Decke gleitend,

ist die Luft über’m Silo, wund von Rabenschwärze

eines Flügels, mit stechendem Schnee nicht zu bleichen.

 

 

XI

M. B.

 

Jenes Dorf – du hast es vergessen, verloren in Wäldern

einer sumpfigen Gegend, wo in Gärten und Feldern

eine Vogelscheuche nie stand jenes Unkrautes wegen,

nur Knüppeldämme und Schlamm anstelle von Wegen.

Nastja lebt sicher nicht mehr, auch Pesterew ist wohl gestorben,

und wenn nicht, betrinkt er sich schon seit dem Morgen

oder wird aus unserem Bett etwas bau’n,

eine Gartentür oder gar einen Zaun.

Winters lebt man dort nur von Rüben, hackt Holz in Scheite,

und vom Rauch blinzelt ein Stern in frostklarer Weite.

Doch am Fenster erscheint nirgends geschmückt eine Braut:

Wo wir einst uns geliebt, hält nun Hochzeit der Staub.

 

 

XII

 

Schöpfung aus Stille, Stillgedicht, mein stummes,

jedoch ein Zugtier – Angst der Zügel schürend.

An welchem Ort beklagen wir das Kummet,

und wer erfährt, wie wir das Leben führen?

So wie du suchst, bevor die Nacht sich wendet,

des Mondes Ochsenauge mit dem Streichholz,

streifst du den Staub des Wahnsinns eigenhändig

von Splittern gelben Rachens ab ins Schreibzeug.

Wie sehr du dies Geschreibsel, Sirup gleichend,

auch dort verstreichst, mit wem zumindest brichst

du aber, Arm und Kniegelenke beugend,

das überdies vom Laib Getrennte – Stillgedicht?

 

Der vollständige Zyklus (I-XX) sowie das Gedicht „Darbringung im Tempel“ ist veröffentlicht in: Isolde Baumgärtner, Raphael. Gedichte und Übersetzungen. Köln 2018. Siehe Mnemosina-Shop

 

 

 

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