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Lyrik [deutsch - russisch]

70+

Als ich vor 15 Jahren bei der jungen Redaktion der „Nowaja gazeta“ anfing, hatte vielleicht der eine oder andere schon seine Zweifel, ob der alte Neuling noch über einen zuverlässigen Menschenverstand und ein gesundes Gedächtnis verfügte. Wie mich die jungen Leute wohl jetzt anschauen, wenn ich auf dem Korridor der Redaktion entlanggehe (mit einer gewissen Beschleunigung, wenn ich in gleicher Richtung gehe, wie die Erde sich dreht)?

Eines Tages wurde ich – mir nichts, dir nichts – siebzig Jahre alt. Wie man so sagt, wünschen wir euch dasselbe. Nachdem ich verstand, dass man zu diesem Anlass von niemandem großartig Verse zu erwarten hat, schrieb ich mir selbst welche:

 

Mit Wohnung, Datscha, Karre ist ganz klar:

Nicht Bruch noch Sturz erwartest du im Streben.

Sie sind gekommen: Ich bin siebzig Jahr.

Bedenk‘, vergangen ist ein halbes Leben.

 

Steh‘ an der Grenze jetzt, an einem Rain.

Die Jugend schwindet. Wohin soll ich weichen?

Undenkbar: Soll ich doch schon siebzig sein

und bald an hundertzehn und -zwanzig reichen.

 

Vorm Schicksal ich im Negligé erschien,

zerknüllt und abgelebt, der ganz Verlor’ne…

Entschuldigt, wo ich doch schon siebzig bin!

Erhol‘ mich jetzt, beginne dann von vorne.

 

Was heißt hier sich erholen! Die Redaktion erwartet für Mittwoch einen Beitrag, man klingelt mich auf zwei Telefonen gleichzeitig an, erwartet mich hier im Meeting, dort im Gerichtssaal, die Autowerkstatt hat eine SMS geschickt – ich bin um 13.30 Uhr für den Motorenölwechsel eingetragen, die Frau erinnert mich daran, dass das eine Türchen am Schrank abgefallen ist und die Steckdose Funken sprüht, der Kater Keschka schreit an der Wohnungstür, man hätte ihm doch einen Spaziergang mit Kletterausflug auf einen Baum versprochen …

Wie gut, dass ich heute Morgen früh aufwachte und alles schaffen werde. Warum bin ich früh aufgewacht? Erinnern Sie sich, womit meine absurden Erinnerungen begannen? Damit, dass ich Telefongespräche am Morgen nicht ausstehen kann. Also, gestern saß ich weit über Mitternacht hinaus noch am Computer, und heute um 7 Uhr weckte mich der Anruf eines Abgeordneten aus der Republik Udmurtien, den ich gebeten hatte, mir die Telefonnummer eines dortigen Farmers zu besorgen. Vier Tage lang hatte er nichts von sich hören lassen, und heute um Herrgottsfrühe ruft er an. Nach udmurtischer Ortszeit eine vollkommen normale Zeit zum Telefonieren. Also er rief an und teilte mit … Was glauben Sie, die Nummer? Aber nicht doch! Er teilte mit, dass er nichts unversucht lässt, sucht und sie gewiss bald findet. Nur damit ich mir keine Sorgen mache …

Mein neues Leben fang ich am nächsten Montag an. Wenn ich es bis dahin schaffe, mit dem alten klarzukommen.

 

Übersetzung des Gedichts: Ralph Jährling

 

 

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