Mnemosina e.V. - Verein für europäische Erinnerungskultur

Tschernobyl-Erinnerungsarbeit

Jüdisch-orientalischer Musikworkshop

Literaturvermittlung

< Projekte

Erinnerung

Nach dem Abschluss der Uni in Kiew arbeitete ich in Narowlja als Diplom-Gastronomin, war glücklich verheiratet und hatte 2 gesunde Kinder. Die Tschernobylkatastrophe hat unser Leben drastisch verändert. Am Sonnabend früh, am 27.04.1986 wussten schon viele Einheimische, dass sich im AKW Tschernobyl eine Havarie ereignet hatte. Mehrere Leute aus Narowlja und Umgebung arbeiteten dort als Feuerwehrleute und Wachleute, aber kein Mensch  konnte sich damals vorstellen, dass dort eine Katastrophe solchen Ausmaßes ausbrechen würde.... Viele Funktionäre und Chefs haben ihre Kinder sofort in andere Orte geschickt, aber es wurde ihnen befohlen, ihre Kinder zurückzuholen. Nur der Kreisrundfunkchef türmte aus der Stadt mit Frau und Baby. Sein Baby war kränklich, und die Frau war meine Kollegin. Er schmiss das Parteibuch auf den Tisch und fuhr mit seiner Familie in die Ukraine, nach Charkow. Seit jener Zeit habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Die anderen Oberen brachten ihre Kinder innerhalb von 24 Stunden zurück. In der Stadt herrschte Panik. Es gab viele Militärleute. Jeder hatte andere Informationen. Ich musste mit meinen Kollegen in die Dörfer fahren, Kolchosen – und Schulkantinen kontrollieren, alles notieren, worüber sie verfügten. Diese Dörfer wurden in einigen Tagen oder Wochen ausgesiedelt, das war eine Arbeit für die Katz.

 

In der Apotheke waren alle jodhaltigen Medikamente ausverkauft. Die Menschen wussten aber nicht, welche Mengen von Medizin und wie sie sie einnehmen sollten.

Sogar Leute mit technischer Hochschulbildung konnten sich nicht vorstellen, welche Folgen diese Katastrophe nach sich ziehen würde.

Wir hatten in der Stadt einen älteren Lehrer, der Grundwehrausbildung in den oberen Klassen der Schule unterrichtete. Er nahm ein Strahlenmessgerät und sah, dass der Wert über 1000 lag und prophezeite ganz schlimme Folgen für alle.

Meine Schwiegermutter wohnte in einem Dorf unweit des Reaktors. Sofort nach der Katastrophe fuhr ich mit dem älteren Sohn zu ihr. Das war nach der Maidemonstration. Dorthin kamen Ärzte und Laboranten mit einem Krankenwagen. Alle Kinder wurden untersucht. Meinem Pawel wurde auch eine Blutprobe entnommen. Und eine Laborantin flüsterte mir ins Ohr: „Fahren Sie sofort weg!“ Ich habe geantwortet: „Wir wohnen nicht hier, wir wohnen in der Kreisstadt.“ Sie hat erneut geflüstert. „Weg von hier! Sofort!“

 

Meine Mutter nahm meine beiden Jungen (zweieinhalb und fünfeinhalb Jahre alt) und floh am 4. Mai zu ihrer anderen Tochter nach Minsk. Meine Mutter arbeitete im Kreisexekutivkomitee von Narowlja. Leider ist sie und meine Schwiegermutter in den 90er Jahren an Krebs gestorben. Am nächsten Tag  rief sie mich an und fragte, ob sie die Kinder zurückbringen solle. Ich habe es ihr verboten. Dann wurden alle Telefone in Narowlja blockiert. Ich ging zur Post, wo meine Bekannte tätig war und bat sie, über ihren Sohn in Minsk meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass sie in Minsk bleiben solle. Der ehemalige Gesundheitsminister der Republik Belarus Sawtschenko ordnete an, alle Leute aus den verstrahlten Gebieten zu untersuchen.

 

So wurden meine Kinder zur Untersuchung ins Krankenhaus Nr. 1 gebracht. Am 8. Mai fuhr ich nach Minsk, meine Kinder in der Klinik besuchen. Ich kam ins Krankenhaus, stand dort drei Tage vor der Tür, aber durfte nicht rein. Das war eine onkologische Station. Die Pflegerinnen weigerten sich, die Tschernobylkinder zu versorgen, sie hatten Angst vor „Ansteckung“. Dann bekamen meine Kinder Fieber. Mein ältester hatte 40 Fieber. Nun durfte ich tagsüber ins Zimmer. Nachts durfte ich nicht bleiben. Aus Moskau kamen oft Hämatologen, Onkologen und andere renommierte Professoren. Sie beobachteten die Kinder, aber sagten uns, den Eltern, kein Wort. Nach 21 Tagen  wurden sie entlassen. Ich unterschrieb die Unterlagen, dass ich sie auf meine eigene Verantwortung mitnehmen würde. Ich habe später erfahren, dass in Narowlja viel Plutonium niedergegangen war. Daher waren die Kinder so stark verstrahlt.

Über die belorussische Konsumgesellschaft bekam ich für mich und meine Kinder einen Ferienplatz in einem Sanatorium bei Minsk für 3 Monate.

Ende August mussten wir zurück nach Narowlja. Nach der Rückkehr aus Minsk wurde der älteste Sohn Pawel schwer krank, er bekam Krämpfe, ich brachte ihn oft zu Volksheilerinnen in einer sehr verstrahlten Gegend. Seit 1987 gilt er als Tschernobylbehinderter von Kindheit an.

 

In der Ukraine begann man die Leute zu evakuieren, aber in Belarus wurde überall verkündet, dass man keine Bedenken zu haben brauche und die Situation sei unter Kontrolle. Aber in Narowlja kam es zu der ersten Protestkundgebung der betroffenen Bevölkerung in Belarus. Die Leute versammelten sich im Stadium und verlangten die Wahrheit über die Ausmaße der Katastrophe und forderten die sofortige Evakuierung.

Aber die Aussiedlung in Narowlja begann erst 1991. Zu den ersten aus Narowlja neun evakuierten Familien gehörte auch unsere. Wir wurden nach Minsk versetzt und bekamen hier eine Dreizimmerwohnung für vier Personen. Da mein Kind behindert war, konnte ich nicht arbeiten. Mein Mann und andere evakuierten Männer sollten sich im Arbeitsamt registrieren lassen. Erst 4 Monate später bekam er das erste Arbeitsangebot. Aber nach anderthalb Jahren starb er an Herzversagen.

Damals herrschte überall Warenmangel. Das notwendigste bekam man nur gegen entsprechende Warenmarken. Wer nicht berufstätig war, bekam sie nicht. Wir Umsiedler gingen zu unserem Abgeordneten und baten ihn um Hilfe wegen der Warenbezugsscheine. Er, ein junger Mann, wies uns ab mit den Worten: „Ihr seid nicht auf Einladung hier.“ Als ich das hörte, wurde ich wütend und sagte zu ihm: „Schau einmal in die Augen unserer Kinder. Du bist doch kein einziges Mal in der kontaminierten Region gewesen, geschweige dessen, dort gearbeitet zu haben. “Aber er wollte uns nicht helfen. Und dann verstanden wir, dass wir nur dann etwas erreichen können, wenn wir uns zusammenschlössen. Und wir gründeten den Umsiedlerverein in Malinowka mit Hilfe der Stiftung von Gruschewoj „Den Kindern von Tschernobyl“. Ich bin seit vielen Jahren die Vorsitzende. Über diese Stiftung begannen wir humanitäre Hilfe zu bekommen und unsere Kinder konnten zur Genesung in verschiedene Länder fahren. Ich fühlte mich lange fremd in Minsk aber jetzt habe ich mich da schon eingelebt. Jetzt wohne ich mit meinem kranken 31jährigen Sohn Pawel, mit dem jüngeren Sohn Alexei, seiner Frau und zwei Enkelkindern zusammen.

 

Zhanna Filomenko

 

 

Mnemosina e.V. - Verein für europäische Erinnerungskultur

Mnemosina e.V.

Verein für europäische Erinnerungskultur

Mnemosina e.V.  - Verein für europäische Erinnerungskultur | Kaiserswerther Str. 4 | 50739 Köln

 

Urheberrecht & Datenschutzerklärung